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Mail aus... Santiago de Chile — von wunderschöner Natur und «Kaffee mit Beinen»

Matthias Wipf

Die restliche Zeit seiner Reise um die Welt verbringt unser Autor in Südamerika — ist in Chile von der facettenreichen Landschaft begeistert und gespannt auf den Vergleich zu Argentinien, dem «besten Feind».

«Santiago ist ein Monster», urteilt unser Freund Pablo, ein sonst sehr distinguierter Chile-Schweizer, mit dem wir einen Ausflug in die wunderschönen Weingebiete rund um die dominierende Landeshauptstadt unternehmen. Klar, in Santiago de Chile herrscht oft Smog, so dass man die frappierend nahe, schnee-bezuckerte Anden-Bergkette kaum sieht — doch wir haben Glück. Auch an den ewigen Verkehrsstaus stören wir uns als Metro-Benutzer, die zudem grosse Teile der Stadt zu Fuss entdecken, nur wenig. Wir sehen schöne Plätze und Arkaden, auch einige tolle neoklassizistische Bauten oder Aussichtshügel wie den San Cristóbal oder Santa Lucía, die zum Verweilen einladen. In Quartieren wie Bellavista oder Lastarría manifestiert sich immer mehr das Flair von Strassencafés und kuscheligen, kleinen Restaurants. Höchstens die sprichwörtliche Unfreundlichkeit der Santiagueros fällt auch uns auf: «Wir können doch nicht immer alles parat haben, was auf der Speisekarte steht», schnauzt uns ein Restaurantbesitzer ungnädig an, nachdem wir uns auf die offerierte Krabben-Lasagne, eine chilenische Spezialität, gefreut hatten. Und «nichts» erwidert ein Autovermieter platt, als wir ihn fragen, was er uns empfehlen könne, da er selbst offensichtlich keine Autos mehr vorrätig hat.

Ein Auto braucht aber, nebst dem Flugzeug, wer den grossen und vor allem 4’300 km langen Pazifikstaat bereisen und die unterschiedlichsten landschaftlichen Facetten jenseits von Santiago entdecken will. Kaum ein anderes Land hat gleichzeitig Vulkane, Gletscher, Wüsten, Regenwälder und endlose Küsten und Strände, und kein anderes hat so viele verschiedene Klimazonen. Unbezahlbar, quasi schwerelos im Atacama-Salzsee zu liegen und staunend die nahen Anden-Berge zu betrachten oder im Valle de la Luna auf einer Düne sitzend den feuerrot reflektierenden Sonnenuntergang zu erleben — und ebenso freuen wir uns, bei unserer nächsten Etappe, allerdings dann auf der argentinischen Seite, die Gletscherwelten Patagoniens zu entdecken. Sowieso wird ein Vergleich mit dem «mejor enemigo», dem besten Feind, wie Argentinien im Film eines chilenischen Regisseurs genannt wird, sehr spannend sein.

Neben der einzigartigen Fauna und Flora, die «Pachamama», die Mutter Erde, in dieser Weltenregion bietet, raucht und spuckt in Chile aber auch fast ständig ein Vulkan, und man hat sich auf regelmässige Erdbeben eingestellt, so wie wir, quasi zur «Begrüssung», ebenfalls eines von Stärke 6.8 miterlebten. Der Staat und die Bevölkerung versucht sich zu wappnen, geht aber auch einigermassen fatalistisch damit um, wie uns verschiedene Chilenen versichern, denn «das nächste Beben kommt ohnehin”. Und so heisst denn auch das Nationalgetränk, nebst dem Pisco Sour, «Terremoto» und ist äusserst süffig — was uns stark an den “Hurricane» in New Orleans erinnert, den wir anfangs fast noch ein bisschen hinter vorgehaltener Halt bestellt hatten.

Produziert wird in Chile bekanntlich aber auch fantastischer Wein, etwa im sogenannten Boutique-Weingut von Siebenthal im Aconcagua-Tal, wo bei unserer Ankunft per Zufall grad der Junior-Chef Matteo, ursprünglich aus dem Kanton Tessin, vorfährt und uns spontan auf eine Tour mitnimmt. Ein anderer, sehr findiger Geschäftsmann hat derweil den «Kaffee mit Beinen» (Café con piernas) entdeckt, die bekannten Bars in Santiago, in denen Frauen in Miniröcken oder sogar Bikinis, und auf erhöhten Podesten stehend, an Geschäftsleute Kaffee ausschenken, was so plötzlich zum Bedürfnis wurde.

Lähmende politische Vergangenheit

Frappiert hat uns, wie stark Chile nach drei Jahren sozialistischem Experiment unter Salvador Allende und 17 Jahren Militärdiktatur unter General Augusto Pinochet noch heute in zwei klare Lager getrennt ist, ja das Thema meist gar nicht angesprochen und selbst unter Freunden kunstvoll umschifft wird. Irgendwie scheint diese traumatische Zeit das Land noch heute zu lähmen. Um so besser tut es den Chilenen, wenn sie wie dieses Jahr die Copa America, die Kontinentalmeisterschaften im Fussball, gewinnen, und erst noch gegen Argentinien. Oder wenn sie vor drei Monaten den Gran Torre, den höchsten Turm Lateinamerikas, eröffnen konnten — von dem auch wir eine wunderbare Sicht über die Stadt genossen haben. Und auf dessen Aussichtsplattform, unter dem Hashtag #OrgullosdeChile, gerade eine Abstimmung läuft, auf was oder wen die Chilenen am meisten stolz sein könnten. Ein guter Weg, wie uns scheint, um einen latent spürbaren, eigentlich völlig unberechtigen Minderwertigkeitskomplex loszuwerden.

Wir haben in Chile viele sehr nette, engagierte junge Leute getroffen, so auch Claudio, einen hohen ehemaligen Regierungsbeamten in der Administration Piñeira, der sehr viel Interessantes über sein Heimatland zu erzählen weiss und verschiedene, äusserst innovative Projekte im Kopf hat. Unbezahlbar auch, wenn wir am Sonntagmorgen, kurz nach unserer Ankunft, durch die Strassen Santiagos schlendern und spontan zum Mitmachen am Slow-Up eingeladen werden, für den jede Woche einige grosse Boulevards gesperrt werden. Dass Chilenen “so kalt wie der Humboldtstrom” seien, wie die argentinischen Nachbarn feixen, können wir definitiv nicht bestätigen — aber irgendwie muss man sie erst “knacken”. Wir müssen also — nicht nur wegen der prächtigen Natur — unbedingt wieder kommen!

Die bisherigen Stationen:

In 80 Tagen um die Welt — Jules Verne reloaded
Singapur — der Duft der Grossstadt
Hanoi — im mystischen Reich von «Onkel Ho»
Tokio — zwischen Meiji- und Manga-Zeitalter
Auckland — zwischen «All Blacks» und «Flat White»
New Orleans — Jazz und Jambalya im «Big Easy»