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Mail aus... Tokio — zwischen Meiji- und Manga-Zeitalter

Matthias Wipf

Unser Autor entdeckt den schrillen japanischen Hightech-Kult, handelt sich Rückenschmerzen ein und quasselt mit Händen und Füssen mit Kazuki und Momoka.

Japan, so viel ist klar, ist ein Land der extremen Gegensätze: zwischen dem sichtbaren Traditionsbewusstsein des stolzen Kaiserreichs einerseits und dem lauten, schrillen, zuweilen bizarren Hightech-Kult anderseits. Zwischen korrektem Schlangestehen allüberall mit genauen, ritualisierten Umgangsformen und dann der Welt der Mangas und Animes, also der japanischen Comics, und von verrückten Roboter-Shows, wie sie in den Vergnügungsvierteln Tokyos dargeboten werden und uns als Besucher ebenso baff zurücklassen. Zwischen extremer Zurückhaltung, Angst vor "Gesichtsverlust" und ungehemmten Karaoke-Partys.

Ja, Japan kann auch den erfahrenen Weltreisenden überraschen und irritieren. Kein Wunder, gibt Tokyo das Setting für den Film "Lost in translation". Und: wirklich alles spricht mit uns, auch der Bahnsteig und das WC, das sowieso vom Po-Wärmen über Soundkulisse bis hin zum Bidet allen Schnickschnack bietet. Beim Taxi geht die Hintertür automatisch auf, und sogar für den Coiffeur und viele Restaurants müssen wir am Eingang am Automaten zuerst Tickets lösen. Eine super Erfindung ist da der Pasmo, die von Sony hergestellte Chip-Karte, mit der, einmal am Automaten aufgeladen, fast alles kontaktlos bezahlt werden kann — und den wir dann in der Schweiz mit Sicherheit vermissen werden.

Auf dünnen Tatami-Matten und Foutons

Das ewige Verbeugen, so lässt uns die drahtige, energische Keiko wissen, mit der wir in Kyoto eine halbtägige Velotour unternehmen, liege "den Japanern irgendwie in der DNA", und sie habe sich auch schon ertappt, kichert sie, wie sie selbst sich sogar am Telefon verbeugt habe. Einblicke in die japanische Kultur und Seele gibt uns auch ein Aufenthalt im Ryokan "Yachiyo", bei dem wir auf dünnen Tatami-Matten und Foutons übernachten und das köstliche Nacht- und Morgenessen im Schneidersitz einnehmen, so dass wir anderntags um eine tolle Erfahrung, aber auch — verweichlichte Westler halt — um Knie- und Rückenschmerzen reicher sind.

Unvergesslich ist auch das ritualisierte Bad in einem traditionellen Onsen, zu dem man vorgängig eine lange "Gebrauchsanweisung" bekommt. Witzig zudem der Besuch eines Trainings der tapsigen Sumo-Wrestler, bevor sich diese wieder zu opulentem Lunch und Mittagsschlaf zurückziehen. A propos Essen: auch mit diesem, weit über Sushi und Sashimi hinaus, kommt man der japanischen Lebenskultur näher — und beim Bestellen helfen zum Glück die Plastiknachbildungen der Speisen in den Schaufenstern der Restaurants. Zudem ringt uns, nebst den tollen Speisen, der ritualisierte Dankes-Singsang der Kellnerinnen hin und wieder ein leichtes Schmunzeln ab.

Nach einigen Tagen, zugegeben, waren wir nicht unglücklich, das schrille, crazy Tokyo ein bisschen hinter uns zu lassen — und die vielfältigen anderen Facetten des Landes näher kennenzulernen, so etwa die frühere Residenzstadt Kyoto, deutlich ruhiger und ohne Wolkenkratzer, mit ihren nicht weniger als 17 Unesco-Weltkulturstätten, oder die, nebst der historischen Tragödie, erfreulich lebensfrohe Stadt Hiroshima mit der vorgelagerten Insel Miyajima. Prächtige Schreine, Tempel und Torbögen (Torii), wohin man auch schaut. Und, für uns auch wichtig: nach dem Aufenthalt in einem nur 11 Quadratmeter grossen Zimmerchen in Tokyo, von uns auch liebevoll "Bento-Box" genannt, waren im Rest des Landes auch unsere Wohnungen, die wir uns schon im Vorfeld angemietet hatten, äusserst grosszügig bemessen und komfortabel.

Gleiches lässt sich auch vom Hochgeschwindigkeitszug Shinkansen sagen, in dem man dank dem praktischen Japan-Railpass schnell, sauber, bequem und pünktlich vorwärtskommt. Unbezahlbar, wenn wir uns im Zug Richtung Hiroshima mit Händen und Füssen, aber höchst angeregt mit Kazuki und Momoka, einem älteren japanischen Ehepaar, unterhalten, und sie uns dann zum Abschied aus Werbeprospekten zwei Friedenskraniche falten. Arigato — danke, Du verrücktes, faszinierendes Japan!