Tourismuswelt

Städte wie Amsterdam (Bild) leiden unter dem «Overtourism». Die Reiseanbieter und die politischen Instanzen müssen zusammenarbeiten, um künftig grösseren Konflikten vorzubeugen. Bild: Pixabay

Kommentar Der Tourismus wird zum Opfer des eigenen Erfolgs

Jean-Claude Raemy

Das touristische Wachstum ist, zumindest geografisch betrachtet, nicht unlimitiert. Die Branche muss dazu beitragen, Lösungen zu finden, um dem grassierenden «Overtourism» Einhalt zu gebieten.

Die Tourismusbranche ist permanent im Wandel. Bahnbrechende Einschnitte passieren selten punktuell, sondern sind Entwicklungen, welche über Jahre hinweg geschehen  - dazu zählen etwa die neuen Möglichkeiten, welche Internet gebracht hat. Das war «disruptive» im höchsten Mass, d.h. es gab neue Möglichkeiten und neue Branchenplayer, währenddem gestandene Reiseveranstalter wie auch stationäre Reisebüros ihre Geschäftsmodelle überdenken mussten. Es galt, flexibel zu sein. Doch die Anpassung an neue Gegebenheit war Sache der jeweiligen Unternehmen.

In diesem Jahr nun gibt es aber ein touristisches Oberthema, welches nicht mehr einfach von der Branche allein bewältigt werden kann, sondern sehr stark im Bereich der Politik spielt. Es geht letztlich um die Quintessenz des Tourismus. Es geht um das Schlagwort «Overtourism». Es geht darum, dass das touristische Wachstum nicht unlimitiert sein kann. Es stellt die ökonomische Maxime des permanenten Wachstums in Frage.

Auch travelnews.ch hat in diesem Jahr wiederholt über dieses Phänomen berichtet, besonders intensiv im Zusammenhang mit Barcelona, Venedig oder Mallorca – man könnte aber auch von Amsterdam, Reykjavik, Dubrovnik, Aspen und vielen anderen Orten dieser Welt sprechen. Es geht grundsätzlich immer um dieselben Themen: Die Städte können den Touristenansturm einerseits logistisch kaum noch bewältigen. Andererseits eröffnen sich neue Probleme, die viel mit der «Sharing Economy» zu tun haben: Spekulanten kaufen Wohnungen einzig zum Zweck der Weitervermietung an Touristen, und erhöhen so künstlich die Preise vor Ort. Die finanziellen Auswirkungen auf die einheimische Bevölkerung sind beträchtlich und treffen besonders jene, welche am touristischen Geschäft nicht mitverdienen.

Was kann man den Einheimischen zumuten?

Das Phänomen ist nicht neu, doch nie zuvor hat sich die Politik dermassen öffentlich mit dem Thema des Overtourism beschäftigt. Die Frage, die sich immer mehr Touristenstädte stellen, lautet: Wie kann man regulativ eingreifen, ohne die Touristen zu vergraulen? Man will ja Touristen haben, sie sind im ökonomischen Gefüge dieser Städte lebenswichtig. Aber es gibt einen «Breaking Point» in Bezug auf das, was man der eigenen Bevölkerung wegen dem Overtourism ökonomisch (hohe Preise für Mieten und Konsumgüter!) und ökologisch (Verschmutzung durch Touristenverkehr!) antun kann.

In Italien wird offen über «Numerus Clausus», also beschränkten Zugang zu gewissen Attraktionen nachgedacht. Wie dies konkret umgesetzt werden soll, ist aber alles andere als klar.

Zahlreiche Faktoren führen zum Gesamtproblem

Das Problem ist, dass zahlreiche Faktoren der Branche diesen Boom beschert haben. Zum einen sind da die extrem günstigen Flüge, weltweit, welche viel mehr Reisen pro Jahr ermöglichen als früher. Dazu das Erwachen der Mega-Märkte Indien und China, sowie weitere Märkte im Osten, wo die Mittelklasse sich immer mehr Reisen leisten kann und diese auch unternimmt.

Ein weiterer Faktor ist der Kreuzfahrten-Boom. Die immer grösseren Schiffe spülen immer mehr Leute zeitgleich in Städte. Was zweifellos Business bringt, wird nicht immer gerne gesehen. In Bergen etwa, einem der grössten Cruise-Häfen des Nordens, wo auf dem Land- oder Flugweg eher wenige Touristen hinkommen, ist wegen der Verstopfung der kleinen Innenstadt durch Cruise-Touristen im Sommer und den dort völlig abgehobenen Preisen ein heftiger Streit um die weitere Handhabung des Kreuzfahrtgeschäfts entbrannt. In Venedig wird über Beschränkungen diskutiert, welche auch mit der Architektur der Stadt zu tun haben, weil gewisse ältere Gebäude die gewaltige Wasserverdrängung der Riesenschiffe kaum schadlos absorbieren können. In Amsterdam werden ganze Häfen verschoben.

Ein besonderer Faktor in diesem Jahr kommt hinzu: Weil bezüglich Reisen in gewisse Länder Vorbehalte bestehen, etwa wegen der Sicherheit vor Ort, konzentrieren sich die Touristenmassen auf weniger Ziele – solche, die eine zumindest relative Sicherheit ausstrahlen.

Wie weiter?

Es dürfte unausweichlich sein, dass sich die grossen touristischen Player vermehrt auch auf der Ebene der Politik engagieren, als Lobbyisten in eigener Sache, aber hoffentlich mit einem wachen Auge auf die Gesamtentwicklung des Reisegeschäfts. Es gilt, wirtschaftliche Stabilität in Einklang mit Nachhaltigkeit und Respekt vor Umwelt und Einheimischen in Einklang zu bringen - kein einfaches Unterfangen. Bislang unternommene Versuche, den Tourismus mehr auf Randgebiete oder Nebensaisons zu diversifizieren, haben jedenfalls noch nicht wirklich gefruchtet.