Karriere

Die Befürchtung, für eigenes Denken und Handeln vom Chef gemassregelt zu werden, lähmt viele Angestellte. Bild: Fotolia

Wenn der Mächtige den Ohnmächtigen zur Schnecke macht

Felix Frei

Hierarchie hat sein Gutes, schreibt Psychologe Felix Frei, doch es ist ein Erfolgsrezept mit Nebenwirkungen.

Gewisse Dinge sind wir uns so gewohnt, dass wir kaum mehr darüber nachdenken. Hierarchie ist so etwas. Nahtlos gehen wir von der Kindheit, wo unsere Eltern uns Dinge befehlen oder verbieten konnten, über in eine Welt der Erwachsenen, wo – zumindest im beruflichen Umfeld – die Einen das Sagen haben über die Anderen. Auch wenn diese Art des Zusammenspiels zwischen Menschen immer mal wieder Reibungen erzeugt, und obwohl es durchaus Alternativen zu diesem Organisationsprinzip gäbe: Übers Ganze gesehen ist es zweifellos ein Erfolgsrezept. Hierarchie hat ungeheure organisatorische und wirtschaftliche Leistungen möglich gemacht. Wohl deshalb ist sie noch immer weitgehend unangefochten.

Doch, wie bei fast jedem Erfolgsrezept, gibt es auch beim Organisationsprinzip der Hierarchie unerwünschte Nebenwirkungen. Eine davon ist, dass man mit der Zuschreibung von Macht an Einzelne das Risiko eingeht, dass diese Macht missbraucht wird. In formeller Hinsicht lässt sich dieser Gefahr durch flankierende Massnahmen begegnen – etwa durch ein Vier-Augen-Prinzip oder durch definierte Eskalationswege. Schwieriger ist es, einem Machtmissbrauch entgegenzuwirken, der sich im Kleinen, im Zwischenmenschlichen abspielt, da wo der Mächtigere den Ohnmächtigeren zur Schnecke macht.

Eine ungeheure Menge an geistiger Leistungsfähigkeit geht verloren

Hierarchie kann aber auch unerwünschte Nebenwirkungen bei den Unterstellten produzieren. Zwei sind besonders häufig und hier das Thema.

Die eine Nebenwirkung besteht darin, dass Menschen – kaum sind sie einer anderen Person unterstellt – ihr eigenes Denken zurückschrauben. Sie gehen vom Gas im eigenen Gehirn. Sie warten auf Vorgaben, Aufträge, Regeln, Ideen und Anweisungen, anstatt selbst Lösungen zu suchen und umzusetzen. Gerade so, als wäre die Person, die ihnen als Chefin vorgesetzt wurde, ringsum klüger, erfahrener und entscheidungsfreudiger als sie selbst. Einem Unternehmen geht damit eine ungeheure Menge an geistiger Leistungsfähigkeit verloren. Es wird zu einem Otto-Motor, der mehr Abwärme produziert, als dass er Leistung auf die Strasse bringt. Der Grund dafür ist Bequemlichkeit oder in der Befürchtung zu suchen, für eigenes Denken und Handeln gemassregelt zu werden, wenn es denn nicht der Erwartung der Chefin entspricht.

Das führt uns zur zweiten Nebenwirkung von Hierarchie: Angst. Anders als Furcht – die aus einer begründeten Befürchtung entsteht, es könnte etwas Schlimmes passieren – braucht Angst keine Gründe. Sie verschwindet daher auch nicht, wenn einem jemand zusichert, dass es keinen Grund gibt, sich zu ängstigen. Es ist unglaublich, wie viele Leute in der steten Angst leben, sie würden auf der Stelle bestraft oder gar entlassen, wenn sie es wagten, ihre eigene Meinung zu sagen. Die Verbreitung dieser Angst steht in unseren Breitengraden in keinem Verhältnis zur nachweislichen Zahl schlechter Beispiele.

Wenn Sie Hierarchie als Erfolgsrezept ohne diese Nebenwirkungen haben wollen, stehen Sie nun aber vor einem Problem: Der Beitrag Ihrer Chefin kann einzig sein, keine schlechten Beispiele für Machtmissbrauch zu liefern. Die eigene Angst zu überwinden und in Ihrem Kopf wieder Vollgas zu geben – das freilich können nur Sie ganz allein. Sie sollten jeden Tag zur Arbeit gehen mit der gelassenen Bereitschaft, sich feuern zu lassen.