Flug

Streiks von Angestellten sind für Airlines inzwischen eine doppelte Bestrafung. Wie lange nehmen sie das noch hin? Bild: Fotolia

Kommentar Passagierrechte: Gut gemeint, aber übers Ziel hinaus geschossen

Jean-Claude Raemy

Airlines werden für extrem viele betriebliche Probleme zur Kasse gebeten. Setzen sich die grossen Carrier mithilfe ihrer Regierungen nun gegen die EU-Passagierrechts-Verordnung 261 zur Wehr? Bei allem Respekt für Passagierrechte: Das wäre nachvollziehbar.

Vor zwei Monaten entschied der EU-Gerichtshof, dass Airlines künftig auch im Fall von «wilden Streiks», also unerlaubten oder unvorhergesehenen Arbeitsniederlegungen, verpflichtet sind, ihren Passagieren eine Entschädigung zu zahlen. Das sorgt bei vielen Airlines für rote Köpfe. Denn die Pünktlichkeit einer Flugreise ist von zahlreichen Faktoren abhängig. Wenn die Airline ein klares Versäumnis begeht, soll sie ihre Kunden entschädigen, keine Frage. Doch wie weit sollen die Entschädigungs-Regelungen gehen?

Airlines müssen eigentlich immer für betriebliche Probleme geradestehen, auch wenn sie direkt nichts für diese Probleme können. Streiks von Fluglotsen? Da sind die Airlines zwar nicht zu Entschädigungszahlungen an Kunden verpflichtet, doch die Annullierungen, Umbuchungen und dergleichen sind sehr wohl kostspielig und verlangen immense logistische Efforts, was eigene Angestellte verärgert, während die Kunden ebenfalls unzufrieden sind. Probleme mit dem Koffer? Die Beschwerden prasseln auf die Airlines ein, auch wenn der Bock meistens bei den Bodendiensten bzw. dem Airport liegt.

Und nun eben die Sache mit den Entschädigungen. Die Airline ist künftig durch einen wilden Streik gleich doppelt bestraft, wie ein WM-Fussballer beim Foul im Sechzehner, wo es nebst dem Penalty noch eine Rote Karte gibt: Zunächst verlieren sie Millionen aufgrund der betrieblichen Probleme, und darüber hinaus können im Nachhinein die Passagiere auf Entschädigungen pochen. Und das laut Gerichtsspruch rückwirkend auf drei Jahre! Natürlich wird sich kaum jemand die Mühe machen, drei Jahre alte Flugtickets hervorzuholen, nur um zu sehen, ob irgendwelche Entschädigungen fällig sind. Wer sich aber schnurstracks an die Arbeit gemacht hat, sind die ganzen Fluggastportale wie Airhelp, Flightright, Refund.me und Konsorten, welche von den Airlines verächtlich als «Kopfgeldjäger» angesehen werden.

Die Airlines beginnen sich zu wehren

Da kommen also möglicherweise immense rückwirkende Kosten auf viele Airlines zu, man denke nur an die Streiks bei Lufthansa oder Air France in den vergangenen Jahren. Darüber hinaus bedingt das Reklamations- und Entschädigungswesen einen enormen Administrations-Aufwand. Die Kosten belaufen sich also bei jeder, nicht so seltenen grösseren Abweichung vom Flugplan in Millionenhöhe. Ist es da wirklich verwunderlich, wenn Airlines sich etwasd gegen die Auswüchse des Entschädigungswesens wehren? Ryanair versucht es leider auf die krumme Tour und wurde jüngst von der italienischen Wettbewerbsbehörde in Höhe von 1,85 Millionen Euro gebüsst, weil sie auf ihrer Webseite die Passagierrechte zu wenig klar deklariert hat, was infolge der vielen Flugausfälle im letzten Herbst wohl nicht zufällig war.

Es erstaunt dennoch nicht, dass sich viele Airlines nun wie Weihnachtsgänse fühlen, die man ausnimmt. Sie fühlen sich mehr und mehr unfair behandelt und befürchten, dass der Begriff «Aussergewöhnliche Umstände» noch mehr verwässert wird und sie bald für wirklich alles ausser vielleicht einem Vulkanausbruch oder Erdbeben geradestehen müssen. Und vor wilden Streiks ist man nun mal kaum gefeit. Es ist nicht anzunehmen, dass Piloten oder Kabinenpersonal besondere Rücksicht auf die happigen Verluste ihres Arbeitgebers nehmen, wenn sie ihre Interessen durchsetzen. Air France hat bereits durchblicken lassen, dass die eigene Existenz in Gefahr sein könnte, wenn munter weiter gestreikt wird.

Panikmache? Kaum, die Probleme sind real. Vielleicht war es ja ein Ziel des EU-Rechtspruchs, die Airlines zum schnelleren Einlenken bei Tarifkonflikten zu bewegen. Das ist sozial, löst aber die Finanzprobleme vieler Airlines auf Dauer auch nicht, gerade angesichts der wieder steigenden Treibstoffpreise. Die Flugpreise anheben? Im globalen Wettbewerb und angesichts des zu erwartenden Aufschreis der Konsumenten und der Wirtschaft kaum möglich.

Air France und Lufthansa werden jedoch nicht lange die Prügelknaben der EU-Verordnung 261 bleiben wollen und dürften – vielleicht mit Hilfe ihrer jeweiligen Regierungen – versuchen, diese Verordnung wieder abzuschwächen oder gar rückgängig zu machen. Dass die grossen «National Carrier» auch als private Unternehmen immer noch eng mit der Politik verquickt sind, liegt auf der Hand - die Airlines schreien aktuell ja auch im Zusammenhang mit der «alarmierenden Verschlechterung bei den Services der europäischen Flugverkehrskontrolle in den Monaten Mai und Juni» wieder nach Eingreifen der Politik. Letztere wird nicht zuschauen, wie die wichtigen Fluggesellschaften unter der Last von finanziellem Druck mit zahlreichen unterschiedlichen Ursachen langsam zusammenbrechen.

Auf der Strecke bleiben sowieso zuerst kleinere, weniger finanzstarke Airlines. Mit der neuen Verordnung hat der EU-Gerichtshof also höchstens die Konsolidierungswelle in der EU-Luftfahrt beschleunigt. Und das kann ja kaum im Interesse der Passagiere sein.