Cruise

Auf einigen Kreuzfahrten ist man unter Umständen so weit von einem Land entfernt, dass im Notfall das ganze Schiff umgeleitet werden muss. Bild: Fotolia.

«Der schlimmste Notfall: Eine Hirnblutung auf dem 88. Breitengrad Nord»

Linda von Euw

Der Schiffsarzt begleitet jedes Jahr mehrere Kreuzfahrten einer Luxus-Reederei und schildert seine ausgefallensten Erlebnisse. (Teil 2/2)

Der Schiffsarzt (Name der Redaktion bekannt) ist durch seine Reisen auf Fünf-Sterne-Schiffen (Teil 1) punkto Service sehr verwöhnt: In den meisten Fünf-Sterne-Hotels könne er nur noch die Nase rümpfen. Das könne er aber vom Komfort seiner jeweiligen Kabine nicht behaupten: «Ich habe keine Ahnung, warum die Kabine des Doktors immer neben dem Maschinenraum ist. Aber immerhin steht mir als Drei-Streifen-Offizier ein Bullauge zu», sagt der Schiffsarzt schmunzelnd.

Nebst den nicht ganz so komfortablen Unterkünften fürs Personal hat der Arzt ein weiteres Problem: Die Passagiere seien zwar zahlungskräftig, aber leider auch oft sehr krank. «Das Durchschnittsalter beträgt meist um die 70 Jahre. Die Passagiere bringen dementsprechend häufig ihre Krankheiten mit an Bord.» So gebe es beispielsweise alleine auf einem Schiff fünf Dialysebetten. In einem Notfall, was immer wieder passiert, ist der Arzt aber komplett auf sich allein gestellt: «Es kommt immer wieder vor, dass ich einen Patienten für vier bis fünf Tage stabilisieren oder schlimmstenfalls das Schiff vom Kurs abbringen muss.»

600 Konsultationen in zwei Wochen

Die grossen Schiffe seien medizinisch zwar top ausgerüstet: Intensivstation, Beatmungsgeräte, Röntgen und Ultraschall. Vor brenzligen Situationen retten ihn aber alle diese Geräte nicht. Der 59-Jährige hat es nicht nur mit Knochenbrüchen, ausgekugelten Schultern und Herzinfarkten zu tun, sondern war auch schon mit einer Hirnblutung mit Koma konfrontiert – auf dem 88. Breitengrad Nord. «Ich musste die Frau intubieren und beatmen. Ich kriegte zum Glück innerhalb von drei Stunden einen Helikopter und konnte die Frau so stabilisieren, dass sie den Flug überlebte.» Drei Tage später starb sie dann allerdings im Spital in Norwegen.

Der Arzt hält seinen Job im Prinzip nicht für stressig, obschon er im Dauereinsatz ist. Während einer ruhigen Fahrt wie zuletzt Anfang Jahr hatte er in zwei Wochen 600 Konsultationen. «Die Grippewelle kam voll in die Südsee geschwappt», sagt der Arzt. Der schlimmste medizinische Notfall auf der letzten Reise: eine Wirbelfraktur, wo zunächst unklar war, ob die Patientin eine Querschnittslähmung erlitten hatte. Der Arzt konnte dann aber Entwarnung geben, die Kreuzfahrt wurde fortgesetzt.

Dass das Umleiten eines Schiffs teuer ist, ist bekannt. Aber auch sonst fallen für die Reederei hohe Ausgaben an. «Die Liegegebühr im Hafen von Sydney kostet für sechs Stunden 380‘000 Dollar», berichtet der Deutsche. Die Durchfahrt durch den Panamakanal ist ebenfalls kostspielig: 170‘000 Dollar muss man hierfür hinblättern. Kein Wunder, kostet da die Reise pro Person für vierzehn Tage rund 20‘000 Euro.

Knochenbrüche und gebohrte Zähne

Dass die Kreuzfahrtgäste gut betucht sind, merkt man auch im Restaurant: «Ich treffe immer wieder extrem interessante Leute – von Filmsternchen bis hin zu politischen Grössen.» Zwei- bis dreimal pro Woche werde vom Schiffsarzt erwartet, dass er sich abends unter die Leute mische. «Dann lese ich vorher jeweils noch schnell die Börsenkurse, damit ich mitreden kann», scherzt der Arzt.

Als Arzt ist man vor Krankheit natürlich nicht gefeit. Ihn selbst erwischte es einmal auf der Drakestrasse: Nierenkolik. Er versorgte sich selber mit Medikamenten und Infusionen und überstand so die drei oder vier Tage, die es brauchte, bis der Nierenstein abging. Durchhalten ist in so einem Fall die einzige Devise für den Arzt, denn für ihn gibt es keinen Ersatz. Auch kranke Passagiere versuche er, möglichst an Bord zu behalten. Denn muss das Schiff wirklich umgeleitet werden, ist die Reise auch für alle anderen Passagiere zu Ende und die Reederei mit hohen Regressforderungen konfrontiert.

Kürzlich hatte der Arzt eine Patientin mit einer Sprunggelenksfraktion. «Ich habe sie geröntgt und eingegipst. Da die Stellung des Gelenks in Ordnung war, konnte die Frau die gesamten drei Wochen an Bord bleiben. Zu Hause wurde sie dann operiert», so der Arzt. Auch einige Zähne hat er schon gebohrt: «Ich habe einen grossen Bruder, der Zahnarzt ist. Den habe ich einmal aus der Südsee angerufen, damit er mir erklärt, was ich zu tun habe.» Manchmal seien aber Zahnärzte an Bord, die man in so einem Fall dazuhole.

Finanzielle Nullnummer

Was der Schiffsarzt stets zu vermeiden versucht: Eine grössere Operation an Bord durchzuführen. Denn das wäre problematisch: «Ich müsste die Narkose überwachen und gleichzeitig operieren», erklärt er. In so einem Fall versuche er, den Patienten zu konservieren und innert zwei bis drei Tagen von Bord zu bringen.

So abwechslungsreich und herausfordernd das Leben als Schiffsarzt ist – finanziell lohnt es sich nicht: «Wenn ich den Dienstausfall gegenrechne, kosten mich diese Reisen sogar richtig Geld», sagt der Arzt. Dennoch will er nicht auf die Tätigkeit als Schiffsarzt verzichten. Die Reederei beschäftigt 30 bis 35 Ärzte. Sie kennen sich aber nicht zwingend persönlich: «Wir sehen uns jeweils nur kurz bei der Übergabe.» Nach acht Wochen auf See sei in der Regel dann doch jeder Schiffsarzt froh, wenn er wieder festen Boden unter den Füssen habe. Er selber habe zwar beim letzten Mal etwas Mühe gehabt, sich wieder einzuleben. Beim Gedanken an seinen nächsten Einsatz leuchten die Augen des quirligen Arztes dementsprechend noch ein wenig mehr.