Trips & Travellers

Am Abend dann sitzen wir hier wie in tausend anderen Städten und Dörfern Italiens auf der Piazza und warten, bis von irgendwoher ein kühlerer Wind heranweht. Dann ist die Welt schon wieder ziemlich in Ordnung. Bild: Adobe Stock

Einwurf Bericht von der Hitzefront

Gottlieb F. Höpli

Von einem Hügel der Region Marken an der Adria erreicht uns dieser Text. Ja, es sei warm, bestätigt der Autor, doch es sei auszuhalten. Das schrille Hitze-Getue in einigen Schweizer Medien habe mit der realen Lebenswelt Italiens wenig zu tun.

Seit einem Vierteljahrhundert verbringe ich einen kleineren oder grösseren Teil des Sommers in einem mittelalterlichen Städtchen auf einem der Hügel der Region Marken an der Adria. Wer jetzt allerdings als Leser deutschsprachiger Medien einen Bericht aus der Hitzehölle des Sommers 2023 erwartet, den muss ich enttäuschen. Es ist eigentlich fast wie jeden Sommer hier: warm.

Untergangs-Szenarien

Auf den weissen Hai habe ich bis jetzt vergeblich gewartet. Dafür haben die Medien nördlich der Alpen ein anderes Monster entdeckt, das zudem noch viel besser in die Erzählung passt, mit der wir alle seit Jahren konfrontiert werden: die Hitze. Ein dankbares Thema! Denn irgendwo ist immer, und sei es nur für einen Tag, ein Hitzerekord zu vermelden. Fernsehen und Boulevardmedien wie «20 minuten» überschlagen sich zurzeit mit Horrormeldungen über das Belpaese unter der Hitzeglocke. Der deutsche Gesundheitsminister Lauterbach, zuständig für fast jede Art von Katastrophen, prophezeit den italienischen Urlaubsorten bereits den unausweichlichen Untergang. Was beim schon eher zuständigen italienischen Tourismusministerium für etwelche Irritationen sorgt.

Das Wetter in Italien, lesen wir in den CH-Media-Zeitungen, spiele diesen Sommer «völlig verrückt». Extremwetter hielten «unsere Ferienparadiese im Griff». Nach der «mörderischen Hitze» (sorry, dass ich noch lebe) Unwetter mit Hagelschlag («Hagelkörner wie Orangen», Tornados und Überschwemmungen. Das liest sich schön flächendeckend – und ist damit nicht mehr als eine grobe Irreführung der Leser. Denn die Berichte betreffen immer nur einzelne Regionen und Orte Italiens.

Wer jetzt nach Rom fährt, ist selber schuld

Es stimmt: In Rom, Florenz oder Bologna erreichen die Temperaturen tagsüber scheint’s 40 Grad und mehr. Zu hoffen ist, dass die Masse der Touristen sich nicht gerade an den Mess-Stationen befindet. Mein Mitgefühl hält sich aber ohnehin in engen Grenzen: Grosse Städte des Südens im Juli und August zu besuchen, war immer schon eine ausgesprochen schlechte Idee. Hier heizt die Sonne die Mauern, welche als zuverlässige Hitzespeicher dienen, stets noch zusätzlich auf. Man geht, steht und sitzt also in einer Art Ofen, der von allen Seiten Hitze ausstrahlt – nur der Wind fehlt, sonst wäre es ein Umluftofen…

Hier allerdings, in meinem Städtchen und am 20 Kilometer weit entfernten Badestrand an der Adria, stieg das Thermometer am bisher heissesten Tag auf 35-36 Grad und sank nachts dann um fast zehn Grad tiefer. Zurzeit sind die Temperaturen, die uns das Hoch «Caronte» mit seiner Sahara-Hitze beschert, bereits wieder am Sinken. Vor einem Jahr war es heisser, 2019 erst recht, und schon in den ersten Jahren des neuen Jahrtausends gab es zweimal Sommer, die mindestens ebenso warm waren. Mit anderen Worten: Die meisten Italiener, und wir mit ihnen erleben zurzeit, was sie jeden Sommer erleben: Einige heisse und viele warme Tage.

Es ist auszuhalten

Man hilft sich, wie man sich immer geholfen hat: Der wirksamste Schutz ist noch immer der Schatten. Nicht unterm Sonnenschirm, sondern unter den Bäumen. Klimaanlagen gibt es kaum, Ventilatoren sind ein verbreitetes Mittel, um sich etwas Erfrischung zu verschaffen. Wassermelonen und Getränke finden sich überall, für jedes Portemonnaie. Am Abend dann sitzen wir hier wie in tausend anderen Städten und Dörfern Italiens auf der Piazza und warten, bis von irgendwoher ein kühlerer Wind heranweht. Dann ist die Welt schon wieder ziemlich in Ordnung. Was nicht heisst, dass sich die Einheimischen nicht wie jedes Jahr über die Hitze beklagen würden!

Die Umgebung hier auf den Hügeln der Marken hat wenig mit den Horrormeldungen der Medien zu tun: Die Sonnenblumenfelder glänzen in einem fast schon Van-Gogh’schen Gelb, Bäume, Sträucher, Wiesen und Felder reizen die ganze Palette aus, und das Meer, um das Landschaftsbild zu vervollständigen, zeigt sich in den vielfältigsten Abstufungen von Türkis bis Dunkelblau – und ist erst noch sauberer als in früheren Jahren.

Ob man die Alarmmedien nicht mal verklagen sollte?

Kurz: Das schrille Hitze-Getue der Clickbait-Jäger und Redaktionsvolontäre in den Billigmedien à la «20minuten» hat mit der realen Lebenswelt Italiens wenig zu schaffen. Scheint aber seine Wirkung nicht zu verfehlen, wie erstaunte Reaktionen auf Whatsapp-Fotos zeigen, die wir über die Alpen schicken. Unser Bericht und die Fotos «malen ein ganz anderes Bild als die Presse, die eher ein Fegefeuer schildert,» schreibt ein befreundeter Empfänger zurück.

Da stellt sich allmählich die Frage, ob diese Art Abschreck-Journalismus nicht wegen Schädigung eines ganzen volkswirtschaftlichen Zweiges gelegentlich mal verklagt werden sollte. Nur schon die Einreichung einer Klage könnte heilsame Wirkung erzielen – und (Konkurrenz-)Medien, die darüber in grosser Aufmachung berichten, fänden sich garantiert.

Kleiner Exkurs: Kälte ist schlimmer

Seitdem die Hitze, die Erwärmung zum grossen Schreckgespenst geworden ist, mit dem man den Menschen Angst machen kann, stellt sich mir allmählich die Frage, was denn an der Wärme eigentlich so schlimm, ja geradezu verdammenswert ist. Hat das mit Wissenschaftlichkeit überhaupt irgend etwas zu tun? Ist denn eine bestimmte globale Durchschnittstemperatur tatsächlich das alleinseligmachende Ziel? Obwohl es bekanntlich im Lauf der Jahrtausende erhebliche Abweichungen nach unten und nach oben gab? An die sich die Natur, und auch der Mensch, anzupassen wussten? Ist es denn nicht eigentlich eher die Kälte, welche wir zu fürchten hätten? Wenn die Temperaturen sinken, wird es ja schnell ungemütlich. Am unteren Ende der Skala wartet bekanntlich die totale Erstarrung. Der Tod allen Lebens. Ich frage ja nur.

Bei allen, die diesen Text bis hierher gelesen haben, entschuldige ich mich in aller Form für das Ausbleiben von aktuellen Hitzehorror-Ingredienzien. Zustände zu beschreiben, die weder neu noch sensationell sind, gehört ja eigentlich zu den No-Gos des Journalismus. Erst recht, wenn es sich um die Sonne handelt, die nun wirklich jeden Tag über uns aufgeht. Seit jeher. Trotzdem sieht es so aus, als ob die dreitausend Jahre alte Weisheit aus dem Prediger Salomo (Kohelet 1,10) unserer Lebenswirklichkeit näher kommt als die heutigen Medien. Denn dort heisst es «Nihil novi sub sole» - Es gibt nichts Neues unter der Sonne.

(Dieser Artikel erschien zuvor im «Nebelspalter».)