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Tested Kokon, Kaiserklang und kleine Klage
Andreas GüntertEigentlich bin ich kein riesiger Fan von Kopfhörern. Es betrübt mich bei der täglichen Bahnfahrt zur Arbeit immer ein wenig, wie sich links und rechts fast alle per Ohrbeschallung abkapseln vom Rest der Menschheit.
Solches Extreme Abkapseling sehe ich auch auf Reisen im Flugzeug, im Bus und der U-Bahn immer häufiger. Not my cup of tea.
Wie es tönt da draussen, was die Leute so plaudern, welchen Klang der öffentliche Raum bietet – das ist für mich der Soundtrack der Reise. Da will ich hinhören. Meistens jedenfalls.
Es ist also nur folgerichtig, dass ein Kopfhörer fehlt auf der Liste der sieben Dinge, die ich immer auf Reisen mit dabei habe.
Doch als ich jüngst die Chance hatte, mir von Sony deren Kopfhörer-Flaggschiff-Modell WH-1000XM3 auszuleihen, griff ich trotzdem zu. Man muss sich ja auch mal einen Überblick verschaffen bezüglich Goldstandard der Kopfhörer-Oberliga.
Zumal dieses Teil nicht nur tollen Klang verspricht, sondern auch sogenanntes «Noise Cancelling» oder «NC», wie die Profis sagen. Also das Wegsperren störender Umgebungsgeräusche. Ideal zum Beispiel im Flugzeug, wenn Babies plärren, Sitznachbarn laut schlafen oder sich ein Junggesellenabschied warmgrölt.
Weil dieser Tage keine Flugreise anstand, unterzog ich das Sony-Testgerät einem erdgebundenen Härtetest: Im Stadtzürcher Bus Nummer 32. Diese Linie fährt über die Langstrasse, also jene Meile, die gleichzeitig als Multikulti-Hochburg, Sündenpfuhl und Party-Piste dient.
An einem schönen Freitagabend kann es gut sein, dass in diesem Bus verschiedene Sound-Systeme aufgedreht werden, ein Ehestreit ausbricht, ein Kampfhund einen Pudel kennenlernen will und Party-Horden aus dem Umland lautstark von ihren Heldentaten prahlen.
Diese Lärmkulisse wird zuverlässig untermalt von zahlreichen existenziellen Handy-Gesprächen, welche laut geführt werden müssen, damit jeder als Zeuge auftreten kann. Zusammenfassend darf ich zum Onboard-Erlebnis in diesem Bus sagen: Ziemlich viel Noise.
Ein ideales Testgebiet also für einen Kopfhörer, der guten Sound und Ruhe verspricht. Und das ohne Kabel – schliesslich haben wir es hier mit einem Gerät zu tun, welches sich via Bluetooth vom Handy aus steuern lässt.
Wie immer, wenn ich ein Sound-Sample testen will, greife ich zum Stück «Slave to the Rhythm» von Grace Jones. Der Kracher aus den 80er Jahren verbindet pumpenden Bass, sphärische Elemente, Stereo-Effekte, starke Stimme und treibende Gitarren Hochtöne so ideal, dass ich mir über die Klangqualität ein gutes Bild machen kann.
Der Sound
Die Qualität der Beschallung ist, ich kann es nicht anders sagen, erstklassig. Auch wenn das Wort «Kaiserklang» in der Regel eher für volksmusikalisches Schaffen steht, möchte ich es hier in genereller Form einführen. Als Prädikat dafür, dass man sich hier nicht nur einen Kopfhörer aufsetzt. Sondern einen portablen Orchestersaal.
Dies nicht zuletzt auch deshalb, weil die Sound-Qualität über die zugehörige App in vielerlei Art – etwa auch mit einem Equalizer – gesteuert und personalisiert werden kann. Am stärksten fand ich den Modus «Klangposition-Steuerung».
Per Klick kann ich hier entscheiden, ob mich Grace Jones stimmlich eher von hinten oder von vorne angreifen soll. Oder von schräg rechts vorne. Ein verblüffendes Tool mit starkem Sound-Impact.
Das Noise-Cancelling
Der Lärmunterdrück-Modus funktioniert hervorragend. Auf meiner Fahrt im 32er-Bus, den ich als mobilen Ghetto-Blaster erlebt habe, kann ich mich per Knopfdruck quasi in meinen eigenen Kokon zurückziehen.
Kampfhund lernt Pudel kennen, Ehestreit bricht aus, eine partywütige Horde brüllt «Live is life» – kann mir alles egal sein. Ich bin komplett in meiner eigenen Sound-Wolke. Wie wenn ich mich in eine grosse Muschel legen und den Deckel zuklappen würde.
Nun ist es im öffentlichen Verkehr ja so, dass es öfters mal schlechte Nachrichten gibt. Weil Busse ausfallen, Strecken blockiert sind oder Schneefall alles durcheinanderbringt. Solche Botschaften, überbracht über den businternen Lautsprecher, hört man natürlich im Noise-Cancelling-Modus niemals.
Mit diesem Gerät hört man sie trotzdem. Die rechte Ohrmuschel ist mit einer Sensorfläche ausgestattet. Wenn man also rechts kurz draufdrückt, ist man sofort wieder im Leben drin und hört alles. Und erschrickt oft genug auch: Weil es so laut ist um einem herum.
Die Stärken
Stark im Klang, resolut beim Ausgrenzen aller Geräusche rundherum. Leicht zu tragen, schön verarbeitet. Dieses Teil könnte mich tatsächlich noch zum Kopfhörer-Fan machen.
Kommt dazu: Selbst wenn man den Sony WH-1000XM3 nicht wireless, sondern mit Kabel benutzt, muss das nicht zu einem Kuddelmuddel im Reisegepäck führen. Denn dieses Reise-Gadget hat sein eigenes Beauty-Case.
Der Kopfhörer lässt sich – samt Aufladekabel und allfälligem weiterem Kabel – hübsch einpacken. Und zwar so, dass selbst ein schwach begabter Feinmotoriker wie der Internaut zum Erfolgserlebnis kommt.
Ich erinnere mich da etwa an die mobile Waschmaschine Scrubba, die mir ja generell gut gefiel und einen ordentlichen Job machte. Aber just beim Verpacken erreichte ich zu meinem Ärger nie mehr die hübsche kleine Form wie damals, als sie noch apart und jungfräulich im Gestell lag.
Bei diesem Ohrmöbel ist das anders: Dank einer Folie in der Tasche, die detailliert zeigt, wie dieser extrem gelenkige Kopfhörer drapiert werden soll, herrscht immer beste Ordnung.
Ich finde das auf Reisen nicht unwichtig und muss dazu zweierlei sagen. Erstens: Bezüglich Transport-Komfort haben die Sony-Ingenieure richtig viel studiert. Zweitens: In einer anderen Hinsicht aber leider sehr viel weniger (siehe «Schwächen»)
Neben Spitzenklang und Ausblenden aller störenden Geräusche kann dieses Reise-Gadget aber noch mehr: Wer es mag, kann mit aufgesetztem Kopfhörer telefonieren. Das funktioniert, wie ich mich selber überzeugen konnte. Aber letztlich ist das für mich eine Spielerei, auf die ich persönlich gut verzichten kann.
Wenn schon Sound, dann richtig und ohne Unterbrechung. Das ist meine Überzeugung. So wie ich es auch beim formschönen Lautsprecher in Kaffeekapselform handhabe.
Die Schwächen
Trotz gutem Tragkomfort, starker Akkuleistung (rund 30 Stunden), Kaiserklang und vieler App-Finessen: Sony, wir müssen reden. Denn es gibt zwei Dinge, die mir gar nicht passen an diesem High-End-Gerät.
Beginnen wir mal mit dem kleineren Übel: Das Ladekabel. Ich finde, es ist nicht gut geraten. Wenn ein Ladekabel in etwa so lang ist wie ein Messer oder eine Gabel, dann ist es zu kurz.
Für einige Menschen mag das ein Detail sein. Für mich ist es keins. Ich will Aufladekabel benützen, die lang genug sind. Damit ich meine wertvollen Gadgets, falls sie im öffentlichen Raum ein paar Meter weg von mir aufgeladen werden, in Sichtweite habe.
Manchmal gilt es unterwegs, ein Tool an einer Steckdose aufzuladen, die umständlich zu erreichen ist. Da ist ein kurzes Kabel nicht viel wert. Natürlich kann man sich ein längeres Kabel nachkaufen. Aber bei einem edlen und hochpreisigen Gerät wie dem Sony WH-1000XM3 sage ich: Das muss im Lieferumfang enthalten sein. Punkt.
Jetzt aber zum Hauptärger an dem Gerät: Der On/Off-Knopf. Erstens dauert es bei Inbetriebnahme eine kleine Ewigkeit, bis die Bluetooth-Koppelung zustandekommt – ohne dass ich weiss, wo ich stehe in dem Prozess.
Ob ich den Kopfhörer eingeschaltet habe oder nicht, erfahre ich meist nur zufällig. Wenn eine weibliche Astronautenstimme «Power on» oder Power off» flötet. Das ist zwar nett – doch ich möchte das lieber mit einem dauerhaften Standby-Licht signalisiert haben.
Der Batteriestand wird ebenso von Miss Spock kundgetan. Meist dann, wenn ich das Gerät schon abgelegt habe – und die Durchsage nicht richtig verstehe. Ein Quell des Ärgers.
Wenn es schon gelungen ist, Menschen auf den Mond zu schiessen und das menschliche Genom zu entschlüsseln, dann sollte es doch auch menschenmöglich sein, eine bessere und komfortablere Lösung zu finden.
Geeignet für...
Leute, die a) Sound satt lieben. Menschen, die sich b) an jedem Standort jederzeit in ihren Kokon zurückziehen wollen. Wer sich zur Schnittmenge von a) und b) zählt, findet in der persönlichen Abkapselung offenbar Erfüllung. Und ist absolut eine Kandidatin oder ein Kandidat für dieses Reise-Gadget.
Preis
So ein mobiler persönlicher Konzertsaal ist natürlich nicht billig. Das kann und muss ein solches Reise-Gadget der Extraklasse auch nicht sein.
Gesehen habe ich das Gerät beispielsweise beim Schweizer Onlinehändler Digitec für 349 Franken.
Fazit
Habe ich zu Beginn wirklich den gemeinen Kopfhörer schlechtgeredet? Sorry, so hart wollte ich eigentlich nicht dreinfahren. Dieses Teil ist ein edler Reisebegleiter mit ganz wenig Tücken, die in der nächsten Version hoffentlich ausgemerzt sind.
Ich hatte für diesen Test nicht den Vergleich zwischen verschiedenen Geräten und Herstellern. Dazu gibt es auf Youtube eine schier endlose Zahl an Spezialisten, die immer wieder aufs neue den Spitzenkampf zwischen den Marken Sony und Bose austragen.
Als genereller Kopfhörer-Nihilist bombte mich dieses Gerät quasi aus der Steinzeit ins Kopfhörer-Atomzeitalter. Eine nicht unangenehme Erfahrung. Ja, ich könnte mir vorstellen, künftig öfters so ein Teil zu tragen.
Note
Im gutschweizerischen Notensystem, das von 6 (absolute Sonderleistung) bis 1 (kompletter Ausfall) reicht, kommt der Sony Noise Cancelling Kopfhörer Sony WH-1000XM3 bei mir mit einer 5,5 durch.
Übrigens
Eigentlich ist dieses Reise-Gadget gar kein gemeiner Kopfhörer. Der Sony WH-1000XM3 ist nämlich gemäss der «Referenzanleitung» (hiess das früher nicht einfach «Gebrauchsanweisung»?) viel mehr als ein Gerät, das sich von Ohr zu Ohr spannt und dabei Musik abspielt.
Wer korrekt arbeiten will – und danach strebt der Internaut natürlich in finsterer Entschlossenheit – muss den Sony WH-1000XM3 mit seinem korrekten Titel ansprechen.
Sorry, dass ich im Text mit der hochoffiziellen Titelbezeichung meist etwas salopp umgegangen bin. Wir wollen das hier nachholen: Der korrekte Titel lautet «Funk-Stereo-Headset mit Rauschunterdrückung». Bitte um Entschuldigung, Eurer Ohren-Ehren.