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Abendliches Musik- und Wasserspiel am Platz der Republik in Jerewan. Bilder: Matthias Wipf

Mail aus... Jerewan – zwischen Ararat, Aprikosen und Aznavour

Matthias Wipf

Ausser «Radio Jerewan» verbindet der auswärtige Besucher kaum etwas mit der armenischen Landeshauptstadt. Unser Autor hat sich genauer umgeschaut – und ein Land entdeckt am Scheideweg zwischen Nostalgie, Trauma und selbstbewusstem Aufbruch in die Zukunft.

Wirklich schön kann man Jerewan nicht nennen. Aber äusserst lebhaft und quirlig geht es abends auf der Nordstrasse zwischen Platz der Republik und Staatsoper zu. Und zwar jeden Abend, auch unter der Woche. Armenier und Touristen flanieren, shoppen, speisen in Cafés und Restaurants – oder treffen sich zum Wasserspiel mit Musik vor dem Rathaus. «Oft ist man bis kurz vor Mitternacht draussen», weiss unsere Reiseleiterin Sara, «denn morgens beginnt die Arbeit normalerweise frühestens um 9 Uhr.» Viele, mehr als ein Drittel der Bevölkerung, haben zudem gar keine Beschäftigung. Der Transformationsprozess nach der Sowjet-Ära und die Umstellung auf eine freie Marktwirtschaft gestalten sich mühsam und beschwerlich. Aufbruchstimmung wie im Nachbarland Georgien ist noch wenig zu spüren. Dazu trägt natürlich auch die stete Gefahr bei, die von den Grenzkonflikten mit der Türkei und Aserbeidschan ausgeht.

Mehr als ein Drittel der rund 3 Mio. Armenier lebt heute in Jerewan. Stolz sind sie auf die imposante Matenadaran, Aufbewahrungsstätte und Forschungszentrum für alte Handschriften, die als wichtigste Sehenswürdigkeit auch von der UNESCO anerkannt ist. Mitten im Stadtzentrum zudem die erst kürzlich erbaute Kathedrale für den heiligen «Gregor der Erleuchter», der uns auch sonst auf Schritt und Tritt begegnet. Über der Stadt schliesslich thronen der Fernsehturm sowie, im sogenannten Siegespark, die Statue «Mutter Armenien» (Majr Hajastan).

Auf Diaspora angewiesen

Nach den Jahren der sowjetischen Monokultur ist Tourismus heute eine wichtige Einnahmequelle. Im kommenden Jahr feiert Jerewan, eine der ältesten Städte der Welt, zudem seine 2800-Jahr-Feier. So richtig auf ausländische Besucher eingerichtet ist die «rosa Stadt», wie sie ob ihrer vielen Tuffstein-Bauten genannt wird, allerdings nicht: Ein Tourismusbüro fehlt, oft finden wochenlang keine Konzerte, Opern oder sonstige Veranstaltungen statt – und während der Stadtrundfahrt im Bus hören wir zwei Stunden lang nur Musik, und erst noch meist dasselbe Stück, weil etwas mit dem Kommentar nicht klappt. Froh sind wir überdies um ein paar Brocken Russisch, um uns in Geschäften und Restaurants zu verständigen.

Etliche der Bauten – am markantesten sicher die Kaskade mit Hunderten Treppenstufen, die mitten in der Stadt pyramidenförmig auf einen Hügel führen – sind zudem noch nicht fertig gebaut. Angewiesen ist man dabei auf finanzielle Unterstützung aus der armenischen Diaspora, die mit rund sieben Millionen mehr als doppelt so gross ist wie die Einwohnerzahl im Land selbst. Richtig verehrt wird Charles Aznavour, der bekannte Chansonnier und Vertreter Armeniens bei der UNO – aber auch Tennisspieler André Agassi, Modedesigner Giorgio Armani, Sängerin Cher und TV-Sternchen Kim Kardashian besitzen armenische Wurzeln.

Kreuzsteine und Lavasch

Das Gebirgsland zwischen Kleinasien und Kaukasus, nur etwa zwei Drittel so gross wie die Schweiz, lässt sich gut von Jerewan aus sternförmig bereisen. Die «Wiege der Christenheit», wie sich die Armenier selbst stolz bezeichnen, hat sich als erste Nation bereits Anfang des 4. Jahrhunderts zu dieser Staatsreligion bekannt. Entscheidend war, bereits genannt, «Gregor der Erleuchter» – und bis heute ist die Volksfrömmigkeit gross, obwohl die atheistische Sowjet-Zeit noch nicht so weit zurückliegt. Imposante Klöster und Kirchen sind allgegenwärtig, oft in wunderschönem Gelände auf Bergen und Hügeln gelegen. Da wären etwa die Kloster Chor Virap, unmittelbar an der Grenze zur Türkei.

Dann Norawank mit seiner Täuferkirche, in der wir einem atemberaubenden, spontanen A capella-Chor lauschen. Oder auch Geghard, ein Meisterwerk mittelalterlicher Baukunst, das teilweise in den Berg geschlagen ist. Alle gehören sie zum UNESCO-Weltkulturerbe oder wenigstens auf die sogenannte Tentativliste. Dasselbe gilt für die imposante Ruinenstätte Swartnoz mit ihrer «Kathedrale der Engel» wenige Kilometer ausserhalb Jerewans. Überall finden sich – statt der Ikonenverehrung in andern Ländern – sogenannte Kreuzsteine (Chatschkar): Mit Reliefs verziert stehen sie für die Erlösung vom Kreuz und sind eines der zentralen kulturell-religiösen Symbole des Landes. Dazu kommen stilisierte Granatäpfel, das armenische Zeichen für Fruchtbarkeit und Reichtum.

Die Strassen in Armenien, die einen von der einen Sehenswürdigkeit zur nächsten bringen, sind meist in einem guten Zustand. Dafür kann es im Sommer schon mal deutlich über 40° warm werden. Überall am Strassenrand gibt es Marktstände, die zum Beispiel Aprikosen, die sogenannten «armenischen Pflaumen» (Prunus armeniaca), und andere getrocknete Früchte verkaufen. Überhaupt, das Essen: Die Armenier sind zwar oft bettelarm, aber überaus gastfreundlich – und das allgegenwärtige Fladenbrot Lavasch, das in traditionellen Lehmöfen (Tonir) gebacken und mit Mezze gereicht wird, schmeckt fantastisch. Desgleichen auch die Teigtaschen (Boraki), Hackfleischbällchen (Köfte), Spiesschen (Schaschlik) und verschiedene Eintöpfe (Plov). Sowie natürlich ein guter Schluck Cognac. Oder wie es der berühmte Komponist Aram Chatschaturjan wohl sagen würde: «Komm, Brüderchen, trink!»

Schwierige Vergangenheitsbewältigung

Das Duduk, ein traditionelles Holzblasinstrument, so scheint es, gibt die Stimmung im Land ganz gut wieder: Einerseits warm und fröhlich, anderseits aber auch zutiefst melancholisch. Das einstige Grossreich besass ein zehnmal grösseres Staatsgebiet. Heute liegt nicht mal mehr der majestätische Berg Ararat, der von fast überall mit seiner Schneekrone zu erblicken ist, auf eigenem Boden, sondern auf dem des Erzfeindes Türkei. Der Ararat mit seinen 5‘137 m.ü.M., auf den die Armenier so stolz sind und der nicht nur am Horizont fast immer zu sehen ist, sondern auch im Landeswappen, auf Banknoten sowie im Logo lokaler Wein- und Schnapsmarken. Die Arche Noah, so die Legende, soll nach der Sintflut am Ararat gestrandet sein, und Noah’s Nachfahre Hayk gilt als Stammvater der Armenier, die sich selbst deshalb «Hay» nennen.

Der grösste Schmerz, den die Armenier bis heute zu verarbeiten haben, ist hingegen der Völkermord (Aghet) durch das Osmanische Reich im Jahre 1915, dem bis zu 1.5 Millionen Menschen zum Opfer fielen. Andere wiederum konnten rechtzeitig fliehen – was auch die grosse Diaspora erklärt. Auf einer Anhöhe in Jerewan befindet sich die Gedenkstätte Zizernakaberd («Schwalbenfestung») mit einem 44 Meter hohen Obelisken, einer ewigen Flamme und einer 100 Meter langen Mauer, in die die Namen der Städte und Dörfer eingraviert sind, in denen die Opfer des Massakers wohnten. Jedes Jahr am 24. April legen Hunderttausende Armenier dort Blumen nieder. Seit rund zwanzig Jahren gibt es zudem auch ein sehr gut gemachtes Museum.

Weg vom «Ja, aber…»

«Pour toi, Arménie», hat Charles Aznavour nach dem grossen Erdbeben im Jahre 1988 ein musikalisches Bekenntnis abgelegt. Man möchte es dem Land am Kreuzpunkt von Europa und Asien gönnen, diese schmerzliche Vergangenheit und die Sowjet-Zeit endgültig zurückzulassen. Kein «ja, aber…» mehr, wie es ‹Radio Jerewan› jeweils so trefflich persiflierte, sondern ein selbstbewusstes Schreiten in die Zukunft. «Wer leistungsbereit ist und sich der globalisierten Welt anpasst», ist unsere Begleiterin Sara überzeugt, «der wird auch in Armenien Erfolg haben.»