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«Einmal warf der Kapitän das Mikrofon nach mir»
Marilin LeuthardEs ist Mittagszeit am Flughafen Zürich – die Rushhour ist in vollem Gange. Die Schlangen an den Passkontrollen sind lang, es ist zweifellos die stressigste Zeit des Tages. «Ich bin seit 15 Jahren nicht mehr geflogen, und ich will auch nicht mehr», sagt Olav Brunner. Dem Flughafenstress von heute gehe er lieber mit Reisen ins Tessin oder ins Piemont aus dem Weg.
Olav Brunner wurde 1940 geboren und wuchs im aargauischen Wohlen auf. Seit vielen Jahren lebt er in Bassersdorf. Bei einem Kaffee im Restaurant Air am Flughafen Zürich erzählt er Travelnews von damals, seiner Zeit bei der Swissair, als vieles noch anders war als heute. «Wir haben eine gute Epoche in der Aviatik miterlebt – wenn nicht die beste», sagt er. Doch er wollte eigentlich gar nicht Pilot werden.

Olav Brunner, war der Pilotenberuf ein Kindheitstraum?
Olav Brunner: Nein, überhaupt nicht. Ich wollte immer Lokführer werden. Zuerst habe ich aber in der BBC in Baden eine Lehre als Maschinenschlosser gemacht. Eines Tages beim Mittagessen erzählten zwei Arbeitskollegen, die mit mir die Lehre absolvierten, sie hätten sich als Militärpiloten angemeldet. Da meinte ich zu ihnen: «Habt ihr einen Vogel? Dafür muss man doch studiert haben!» Doch tatsächlich gab es in der «Aerorevue» ein Inserat, wo man sich für den fliegerischen Vorunterricht anmelden konnte. Noch am selben Tag kaufte ich am Bahnhofkiosk das Heft. Ich dachte, wenn die das können, dann kann ich das auch – und habe mich ebenfalls angemeldet.
Die Ausbildung zum Militärpiloten war sehr streng. Gerade mal 14 von 28 Anwärtern haben es bis zum Abschluss geschafft. Dafür erhielten wir eine extrem gute und wertvolle Ausbildung, vor allem im visuellen Fliegen. Damals gab es noch keine Instrumentenlandung im Militär. Ich bin sicher, wäre der Kapitän beim Unglück im Hudson River kein Militärpilot gewesen, hätte er die Notlandung auf diese Weise nicht gewagt. Notlandungen haben wir im Militär etliche Male geübt.
Wie kamen Sie dann zur Swissair?
Ich wollte gar nicht zur Swissair. Ich hatte einen guten Job in einer Zürcher Privatfirma, wo es mir sehr gut gefiel. Aber während einem Wiederholungskurs im Militär in Interlaken teilte ich mit einem Swissair-Pilot das Zimmer, der mich überredete, die Bewerbungsformulare, die er für mich organisiert hatte, auszufüllen. Ich wollte ihn nicht vor den Kopf stossen und habe sie ausgefüllt. Und dann ging es los... Als Militärpilot hatte ich natürlich grosse Vorteile. Damals hatte bestimmt die Hälfte aller Swissair-Piloten die militärische Ausbildung durchlaufen. Bevor ich aber die Swissair-Schulung antreten konnte, musste ich drei Monate nach London, um Englisch zu lernen. Das war natürlich eine Voraussetzung.
Wie schaute dann die Ausbildung bei der Swissair aus?
Zuerst begann die zweijährige Ausbildung auf der legendären DC-3 bei der Schweizerischen Luftverkehrsschule in Kloten. Dazu kam auch eine umfangreiche meteorologische Ausbildung, von der ich noch heute profitiere, und eine ganz spezielles Studium – nämlich die Astronavigation. Damals flog bei uns auf Langstrecken im Cockpit ein Navigator mit, der mit dem Sextant durch das Dach die Sterne oder Sonne gemessen hat und so unsere Position bestimmte. Wäre der Navigator ausgefallen, hätte der Kopilot diese Aufgabe übernehmen müssen.
«Kennen Sie den Unterschied zwischen einer Ente und einem Kopiloten? Die Ente kann fliegen.»
Der Beruf hat sich im Laufe der Jahre sehr verändert. Ist das Fliegen heute einfacher als damals?
Der Normalfall ist heute durch die Digitalisierung eindeutig einfacher geworden. Die Ausrüstung der Flugzeuge hat extreme Fortschritte gemacht. Wir hatten im Jumbo noch kein CPS, nur eine handvoll Instrumente. Heute sind viele Informationen zusammen auf einem Bildschirm präsentiert. Aber man muss bedenken, dass heute meist nur noch zwei Personen im Cockpit sitzen. Wir waren auf Langstrecken mindestens zu dritt, sodass im Falle eines Problems sich jemand darum kümmern konnte. Stimmt heute in der Elektronik etwas nicht mehr, dann kann das sehr kompliziert und herausfordernd werden.
Olav Brunner war nach der zweijährigen Ausbildung ab 1968 Kopilot auf der SE-210 Caravelle, zwei Jahre später dann auf der DC-8. Zum Kapitän befördert wurde er 1975 auf der DC-9. Die letzten fünf Jahre seiner Karriere verbrachte er als Kapitän der Boeing B-747, bevor er 1993 mit 53 Jahren in die Pensionierung ging.
Welches Flugzeug hatten Sie am liebsten?
Ich habe zwei Liebschaften in meinem Leben: Meine Frau und den Jumbo (Boeing-747).
Wie war die Atmosphäre im Cockpit zu dieser Zeit?
Zu Beginn meiner Karriere prägte eine sehr starke Hierarchie die Zusammenarbeit zwischen Kapitän und Kopilot. Man war per Sie und als Kopilot wirklich der «Löli». «Kennen Sie den Unterschied zwischen einer Ente und einem Kopiloten? Die Ente kann fliegen», war ein gängiger Spruch bei der Begrüssung. Einmal warf der Kapitän das Mikrofon nach mir – begleitet von den Worten: «Du Tubel da drüben!» Wenn wir zweimal im Jahr im Simulator unsere Prüfungen ablegen mussten und sahen, dass dem Kapitän etwas misslingt, haben wir natürlich nichts gesagt und heimlich gelacht.
Mit dem gesellschaftlichen Wandel und dem Einfluss neuer Generationen hat sich vieles sehr positiv entwickelt. Heute steht enge Zusammenarbeit an erster Stelle – sie ist das Fundament sicheren, erfolgreichen Handelns. Man überwacht sich gegenseitig und kommuniziert Entscheidungen transparent. Es entwickelte sich auch eine einmalige Fehlerkultur: Nach jedem Flug fand ein Debriefing statt, bei dem offen darüber gesprochen wurde, was während des Fluges nicht gut lief. Bei schwerwiegenden Vorfällen wurde die Führungsebene informiert und man musste sich verantworten. Diese Fehlerkultur ist bis heute ein grosser Gewinn. Neue Erkenntnisse werden teilweise sogar international geteilt, damit andere auch davon profitieren können.
Welche Vorzüge genoss man bei der Swissair?
Wir hatten grosszügige Ferien und Freitage zur Verfügung und haben sehr gut verdient; als Jumbo-Kapitän rund 19’000 Franken im Monat. Es war penibel, dass das Cockpit-Personal bei dienstlichen Flügen immer in der First Class flog und das Kabinen-Personal hinten in der Economy. Mir hat das immer ein wenig weh getan. An den jeweiligen Destinationen übernachtete dann aber die ganze Crew immer in erstklassigen, wirklich fantastischen Hotels. Im Crew-Hotel in Genf gab es separate Etagen für Männer und Frauen sowie zwei verschiedene Lifte. Der Rezeptionist hat das stets ganz genau kontrolliert. Wir waren stolz, Swissair-Piloten zu sein. Die Crossair nannten wir bloss eine Spielwarenabteilung (lacht). Rückblickend muss ich eingestehen, dass wir mitunter etwas überheblich aufgetreten sind. Aus heutiger Sicht war das nicht besonders fair, die anderen Piloten haben auch gearbeitet. Und dies unter viel schlechteren Bedingungen und mit viel weniger Lohn.
«Wir sind nach einem neunstündigen Flug in Zürich immer mit roten Augen wie Angorakaninchen ausgestiegen.»
Wie sah Ihr Dienstplan aus?
Wir absolvierten rund 60 Flugstunden pro Monat. Mit der Umschulung auf die DC-8 eröffnete sich dann die grosse weite Welt mit langen Rotationen von teilweise bis zu 12 Tagen. Beispielsweise flogen wir von Zürich nach Genf und dann weiter nach Athen, wo wir zwei bis drei Nächte im Hilton-Hotel übernachteten. Der nächste Stopp war in Karatschi oder Bombay. Ich erinnere mich, wie wir in Karatschi mitten in der Nacht mit einem Boot auf das Meer hinausgefahren sind, um Krabben zu fischen (schmunzelt). Es war wirklich fantastisch. Zuletzt ging es noch nach Hongkong. Auch in New York hatten wir jeweils Aufenthalte von zwei bis drei Tagen.
Welche Rotationen hatten sie am liebsten?
Ganz klar Hongkong. Der Anflug auf den alten Hongkonger Flughafen Kai Tak war das Allergrösste, das man sich vorstellen konnte. Man flog mit einer Landehilfe quasi quer zur Piste an und dann musste man von Auge auf die Landepiste eindrehen, über all die hohen Häuser hinweg. Ich habe jeweils runter geschaut, ob der Flügel nicht noch die Wäscheleine von jemandem mitnimmt. Hongkong war einer der anspruchsvollsten Flughäfen dazumal. Diesen Anflug vergisst man nicht mehr. Nach der Umschulung auf die 747 ging meine erste Rotation direkt dorthin. Ich rief sofort den Flottenchef an und sagte zu ihm: «Geht’s noch! Der erste Flug nach der Umschulung nach Hongkong?» Er sagte bloss: «Kannst du es etwa nicht? Ich wünsche dir einen guten Flug.»
Hingegen mochte ich die Anflüge auf Chicago nicht wirklich. Dieser Flughafen war damals einer der meistfrequentierten der Welt und sehr hektisch. Es ging zu wie im hölzernen Himmel. Hinzu kam, dass die Fluglotsen in einem Slang sprachen, den man kaum verstand.
Haben Sie gefährliche Situationen erlebt?
Zweimal hatten wir einen sogenannten «Near Miss», also einen Beinahe-Zusammenstoss in der Luft. Das eine Mal lag er Fehler bei der Flugsicherung, und das andere Mal hat uns eine Militärmaschine fast touchiert. Passiert ist glücklicherweise nichts. Mit der DC-8 mussten wir einmal umkehren, da wir eine Feuermeldung eines Triebwerks hatten. Wir haben die Checkliste abgearbeitet und die Feuerlöscher aktiviert, genützt hat es aber nichts. Es stellte sich dann heraus, dass es gar kein Feuer war, sondern ein Heissluft-Leitung mit einem Leck. Heisse Luft blies ausgerechnet an einen Feuersensor und löste eine Fehlermeldung im Cockpit aus. Ansonsten habe ich nie etwas Gefährliches erlebt. Ich hatte immer Glück.
Damals durfte man noch Rauchen im Cockpit?
Ja, wir sind nach einem neunstündigen Flug in Zürich immer mit roten Augen wie Angorakaninchen ausgestiegen. Ich rauchte Philipp Morris ohne Filter, der Kapitän Havanna Zigarren, der Flugingenieur Toscanelli und der Navigator Pfeife. In der Kabine wurde ebenfalls geraucht – auf der Caravelle haben sie in der First Class noch gratis Zigarren verteilt.
Und ins Cockpit durfte man als Passagier auch?
Man musste das Cockpit-Personal fragen, und wenn wir Zeit hatten, durften die Passagiere vorbeikommen. Teilweise kamen auch interessante Leute nach vorne. Einmal kriegten wir Besuch von Bundesrätin Dreifuss. Sie war so begeistert, dass sie nicht mehr zurück in die Kabine wollte, obwohl bei der Landung keine Passagiere im Cockpit erlaubt waren. Ich musste sie regelrecht nach hinten schicken.
Wie haben Sie das erlebt, als die ersten Pilotinnen zur Swissair kamen?
Die Flugbegleiterinnen berichteten damals, dass im Cockpit eine auffällig stille Atmosphäre herrschte, sobald eine Pilotin anwesend war – kaum ein Wort wurde gewechselt. War hingegen die Cockpit-Besatzung rein männlich, wurden regelmässig Sprüche gemacht und lockerer Umgang gepflegt. Ich persönlich hatte nie ein Problem mit weiblichen Kolleginnen – für mich zählt allein die Leistung, nicht das Geschlecht. Die erste Swissair-Pilotin Gaby Musy-Lüthy absolvierte einen ihrer ersten Flüge mit mir. Ich erinnere ich mich gut daran: Es ging nach Kos. Sie hatte Bedenken wegen des speziellen Anflugs – doch sie meisterte die Herausforderung mit Bravour.
«Zweifellos ist es noch immer ein sehr interessanter, anspruchsvoller Top-Beruf – aber er hat viel von seinem Glanz eingebüsst.»
Was waren Ihre speziellsten Erlebnisse?
Ich begegnete durch meinen Beruf vielen spannenden Persönlichkeiten. In New York kauften Luciano Pavarotti und ich immer immer im gleichen Deli unsere Sandwiches ein. In Bangkok begegneten wir Frank Sinatra am Hotelpool. In Johannesburg wohnten wir im gleichen Hotel wie Udo Jürgens. So kam es, dass er die ganze Crew zu seinem Konzert einlud. Er reservierte für uns Plätze in der ersten Reihe in der Oper von Johannesburg, und wir kamen alle im T-Shirt und Jeans. Alle anderen Gäste trugen Abendkleider, Smoking und Diamantencollier (lacht).
Ein besonderes Erlebnis war mein rund dreiwöchiger Einsatz in Kinshasa im Kongo, wo ich im Auftrag von Air Afrique flog. Hintergrund war der Versuch von Douglas, der afrikanischen Airline eine Langversion der DC-9 zu verkaufen – eine Maschine aus dem Bestand der Swissair. Zu zweit reisten wir in den Kongo und führten mit einer lokalen Kabinenbesatzung Linienflüge für Air Afrique durch. Doch schon bald zeigte sich: Das Flugzeug war für die dortigen Anforderungen schlicht nicht geeignet. Die Passagiere reisten regelmässig mit übermässig viel Gepäck, was zu ständiger Überladung führte. Und wir hatten wegen den hohen Temperaturen Mühe, die vorgeschriebenen Flughöhen zu erreichen, und flogen aus Sicherheitsgründen stets rund zehn Knoten schneller. Am Ende war klar: Die Maschine entsprach nicht den Anforderungen – ein Verkauf fand nicht statt.
In Chicago habe ich mir eine Typhuserkrankung eingefangen, als wir mit einem Motorboot auf dem Fox River unterwegs waren. Genau drei Wochen später erwachte ich mit 40 Grad Fieber in Bangkok, nachdem wir am Vorabend auf der Schweizer Botschaft zur 1.-August-Feier eingeladen waren. Glücklicherweise stellte ein Arzt sofort fest, dass ich Typhus hatte. Im Spital gaben sie mir daraufhin die richtigen Medikamente, so dass ich schon nach drei Tagen wieder nach Hause konnte.
Wie wurden sie Im Umfeld als Swissair-Pilot wahrgenommen?
Wenn man gefragt wurde was man arbeitet und man dann sagte, dass man Pilot sei bei der Swissair, löste das teilweise einen halben Schock aus. Manchmal erhielt man deswegen auch Einladungen.
Haben Sie das Fliegen nach der Pension vermisst?
Nein, habe ich nicht. Ich kannte zu diesem Zeitpunkt New York, Chicago und Hongkong besser als Bassersdorf. Das Pensionsalter für Swissair-Piloten war damals bei 55 Jahren – ich liess mich aus privaten Gründen bereits mit 53 pensionieren und widmete mich anderen Projekten. Das war ein grosser Vorteil: Man konnte nach der frühen Pension nochmals neu loslegen.
Kürzlich hatte ich die Möglichkeit, in einem modernen Simulator zu fliegen und dachte, ich werde mich fürchterlich blamieren. Ich flog eine Runde von Zürich nach Basel und zurück – problemlos. Fliegen ist wie Schwimmen oder Velofahren, man verlernt es nie.
Würden sie in der heutigen Zeit noch als Pilot arbeiten wollen?
Nein. Zweifellos ist es noch immer ein sehr interessanter, anspruchsvoller Top-Beruf – aber er hat viel von seinem Glanz eingebüsst. Heute sind die Bedingungen deutlich härter: tiefere Löhne, ein stark beeinträchtigtes Sozialleben und eine spürbar höhere Arbeitsbelastung. Und für die Ausbildung müssen mehr als hunderttausend Franken bezahlt werden. Wir haben damals wirklich eine Wunderzeit erlebt.