Here & There

Sightseeing mit dem Themse-Boot

Seit der Brexit-Abstimmung ist das Britische Pfund auf Talfahrt und London wird für Touristen immer preiswerter. Eine erholsame Stadtbesichtigung bietet eine Bootstour auf der Themse von Kew bis Westminster.

Möwen zanken sich um ihre Beute, Kajakfahrer rudern den trägen Fluss aufwärts, Schlauchboote werden unterhalb der Kew Bridge zu Wasser gelassen. Auf der Themse herrscht Ebbe. Der Tidenhub beträgt in Kew Village, rund 70 Kilometer von der Themse-Mündung in die Nordsee entfernt, noch bis zu sieben Meter. Der beschauliche Vorort im Westen mit dem weltberühmten Royal Botanic Garden ist nur 30 U-Bahn-Minuten von der brodelnden Innenstadt Londons entfernt, und der schönste Startpunkt für eine Stadtbesichtigung zu Wasser. Auf einer Themse-Bootsfahrt von Kew bis zum Big Ben passiert man in gut eineinhalb Stunden zwölf historische Brücken und kommt der spannenden Geschichte der Stadt fliessend näher.

Seit 40 Jahren schippert die «Cockney Sparrow» über die Themse – auch bei Ebbe. Der Kahn vibriert und kommt in Zeitlupentempo in die Gänge. Von der Kew Bridge winken Spaziergänger. Wer im späten 18. Jahrhundert die Brücke überquerte, der musste als Fussgänger einen Penny Maut bezahlen. Heute verbindet sie die nördliche und südliche Ringstrasse Londons und Maut muss niemand mehr entrichten.

Voller Vorfreude auf eine gemütliche Bootspartie haben knapp zwei Dutzend Passagiere auf dem Oberdeck Platz genommen. Bei sonnigem Wetter geniessen sie den Ausblick auf die vorbeiziehende Landschaft und packen zur Lunchtime Sandwiches aus. «Ich bin schon mehrmals nach Feierabend mit dem Boot von Westminster nach Kew gefahren,» sagt Cathy Noordally, die unweit von Kew wohnt. Heute fährt die Finanzmanagerin mal «just for fun» in der Gegenrichtung flussabwärts in die City of London.

Entscheidung bei der Barnes Bridge

Die Themse ist mit ihren 346 Kilometern der zweitlängste Fluss in Grossbritannien und für Engländer ein Nationalheiligtum. Vor 30 Millionen Jahren – also lange vor dem Brexit – als Grossbritannien noch keine Insel war, war die Themse gar ein Nebenfluss des Rheins. Die Kelten siedelten an ihrem Ufer. Römer, Sachsen, Normannen und Wikinger versuchten von der Themse aus, die Insel zu erobern. Die festlich herausgeputzte Anne Boleyn fuhr auf der Themse mit einer Barke zur Hochzeit mit Heinrich VIII. und drei Jahre später zum Schafott. Die Themse war schon immer Handelsweg, Trinkwasserreservoir und Inspiration für Künstler und Politiker. So verbinden die Brücken nicht nur das einst sumpfige Südufer mit dem trockenen Nordufer, sondern oft auch mit einer spannenden Geschichte.

Die Cockney Sparrow passiert schon bald die Chiswick Bridge. «Einmal im Jahr ist hier die Ziellinie der Ruderregatta 'Boat Race'», erzählt Noordally. Ende März oder Anfang April messen sich die stärksten Achter-Rudermannschaften der Universitäten Oxford und Cambridge. «Wer die traditionsreiche Ruderregatta gewinnt», da ist sich Noordally sicher, "entscheidet sich bereits an der Barnes Bridge». Das Team, das bei der Eisenbahnbrücke im Vorsprung ist, gewinnt meist auch das Rennen.

Zwischen Chiswick und Hammersmith kommt das Ausflugsboot vorbei an handtuchschmalen Reihenhäusern im Tudorstil, urigen Pubs und einer ausgedehnten, grünen Flusslandschaft. Kinder stapfen in Gummistiefeln durch den braunen Ufermorast auf der Suche nach historischen Fundstücken. Mudlarker, wie die Themse-Schatzsucher heißen, finden im Schlamm immer wieder Relikte der historischen Vergangenheit. Manches Fundstück liegt restauriert im Museum of London – oder zu Hause auf dem Kaminsims.
Nach einer Flussbiegung kommt die Hammersmith Bridge ins Blickfeld. Die schmiedeeiserne Hängebrücke war dreimal Ziel von Bombenanschlägen der IRA. Zweimal scheiterten die Anschläge. Die Bombe im Juni 2000 richtete jedoch grossen Schaden an. Umwerfend schön ist die längst restaurierte, beleuchtete Brücke bei Nacht.

Weiter flussabwärts wandelt sich nach und nach das Stadtbild. Schicke, vier- bis fünfstöckige Wohnhäuser mit Dachterrassen wurden an das Flussufer gebaut. Elegante Glasfassaden wechseln sich ab mit modernen Bürogebäuden – und mit mehreren, kleinen Bootshäusern. Vor den College Boat Clubs liegen schnittige Ruderboote. Dort, unmittelbar an der Putney Bridge, startet seit 1845 das spektakuläre Duell der Rudermannschaften der Universitäten von Oxford und Cambridge. Aktuell hat Cambridge mit 82 Siegen die Nase vorn.

Bootsausflüge auf der Themse haben eine lange Tradition. So begab sich am 17. Juli 1717 König Georg I. mit grossem Gefolge in Lambeth auf seine offene Barke und ließ sich mit der Strömung nach Chelsea treiben - begleitet von Georg Friedrich Händel und seinen Musikern. Gespielt wurde die für diesen Anlass komponierte Wassermusik.  Weiter flussabwärts weitet sich die Themse allmählich zum Strom. Lastkähne liegen vertäut am Ufer. Über die Battersea Bridge rollt ein neuer roter Doppeldeckerbus. Aufgrund einer EU-Richtlinie mussten die alten Routemaster-Busse ausgemustert werden. Seit ein paar Jahren verkehren moderne Nachfolger. Der «New Bus for London» wurde vor allem auf Wunsch des früheren Londoner Bürgermeisters und Brexit-Wortführers Boris Johnson eingesetzt und heisst nun «Borismaster».

Eine der schönsten Themsebrücken ist fraglos die Albert Bridge, benannt nach Prinz Albert, dem Ehemann Königin Victorias. Nach dem zweiten Weltkrieg wäre die Brücke beinahe abgerissen worden. Sie war zu instabil für die immer schwerer werdenden Fahrzeuge. Nach heftigen Protesten wurden die Fundamente verstärkt, zwei Pfeiler in der Mitte der Brücke errichtet und die Maximallast auf zwei Tonnen reduziert.

Eine filigrane Schönheit ist die Chelsea Bridge. In ihrem Flussbett wurden beim Bau der ersten Brücke an gleicher Stelle keltische und römische Waffen und Knochen gefunden sowie der Battersea-Schild, der heute im British Museum ausgestellt ist. Historiker vermuten, dass Cäsar dort 54 v. Chr. die Themse überschritten hat.

Nirgendwo lässt sich der Wandel der Londoner Skyline besser erfassen, als von der Themse aus. Noch vor Erreichen der Vauxhall Bridge ist Schluss mit dem idyllischen Landleben. Dominant erhebt sich der St. George Wharf Tower, das derzeit höchste Wohnhaus Londons. Unmittelbar neben der Vauxhall Bridge – James Bond lässt grüssen – steht das MI6. Offiziell heisst der massive Betonklotz gegenüber der Tate Britain Secret Intelligence Service SIS.

Gleich danach zeigt sich die steinerne Pracht des ehemaligen Empire: Lambeth Palace am Südufer, Palace of Westminster mit Big Ben am Nordufer. Statt Brücken verbanden jahrhundertelang Fähren die beiden Flussufer. Seit dem 13. Jahrhundert legten selbst die Boote der Könige an der Horseferry Road in Lambeth an. Die Benutzung dieser «Pferdefähre» war jedoch wegen der Gezeiten oft gefährlich.

«Der Farbanstrich der Brücken ist nicht zufällig gewählt,» sagt Noordally und erklärt: «Der rote Anstrich der Lambeth Bridge steht für die roten Ledersessel im House of Lords und die grün gestrichene Westminster Bridge für die grünen Ledersessel im Sitzungssaal im House of Commons.» Die 1862 eingeweihte und mit Wappen verzierte schmiedeeiserne Brücke ist heute die älteste Themsebrücke Londons.

Mit einem leichten Stups erreicht die «Cockney Sparrow» die Anlegestelle. Polizeisirenen, Motorengeheul, Autohupen und ein babylonisches Sprachgewirr prasseln auf die Besucher nieder. Unbeirrt spielt über all dem Lärm ein schottischer Dudelsackspieler seine Weisen – willkommen in der City of London.

(SBO/SRT)