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  Bologna – Hauptstadt des guten Geschmacks
Christian HaasBologna – Beiname «la grassa», also «die Fette» – sehen viele als das Schlemmerparadies schlechthin. Zu Recht. An fast jeder Ecke der Stadt werden die weltbekannten Exportschlager Tortellini, Mortadella, grüne Lasagne und vor allem Ragù alla bolognese kredenzt, sei es in familiären Trattorien oder edlen Sternerestaurants. Doch egal, wo man schlemmt: Auf einen Verdauungsspaziergang sollte man nicht verzichten. Nicht nur, um wieder ein paar Kalorien abzutrainieren (als «leicht» lässt sich die Bologneser Küche wahrlich nicht bezeichnen), sondern auch um etwas vom charmanten Stadtbild mitzubekommen. 
Schlechtes Wetter fällt als Ausrede übrigens aus. Schliesslich sorgen die «Portici», wunderschöne, meist schwungvoll gewölbte Laubengänge, für trockene Wege, und das auf sage und schreibe 62 Kilometer Länge. Rekordverdächtig. Und auszeichnungsverdächtig. Nicht umsonst wurden die Arkaden, die viele der prächtigen Plätze, Kirchen und Paläste miteinander verbinden, von der Unesco im Jahr 2021 zum Weltkulturerbe geadelt.
Studentenstadt mit starkem Kulturprofil
Auch das übrige Stadtbild mit der 1088 gegründeten und somit ersten Universität Europas und den vielen charmanten Plätzen hat es in sich. Für ein besonderes Flair sorgen die Geschlechtertürme, die einst zu den höchsten Profanbauten des Kontinents zählten und die Stadt zum Manhattan des 12. Jahrhunderts machten.
Von rund 180 dieser «torri» stehen heute immerhin noch 20, wenn auch – wie die Wahrzeichen, die an der Piazza di Porta Ravegnanna Wache halten – in windschiefer Position: der 47 Meter hohe Torre della Garisenda und sein doppelt so hoher Nachbar Torre degli Asinelli. Wer diesen erklimmt, wird mit einem atemberaubenden Panoramablick belohnt (vorher erkundigen, wann die Wartungsarbeiten abgeschlossen sind).
        
            Aber wehe dem, der schon während seines Studiums die 498 Stufen der Holztreppe emporsteigt. Ein alter Aberglauben besagt nämlich, dass man in diesem Fall nie ein Diplom in der Hand halten wird. Man muss wissen: Aberglauben spielt insbesondere in Bologna eine grosse Rolle und ganz besonders unter den Studierenden.
Und diese stellen immerhin rund ein Viertel der 400'000 Einwohnerinnen und Einwohner, drücken der Stadt also ihren ganz besonderen Stempel auf, Stichwort Strassenbild, Nachtleben und viele Kultureinrichtungen. Nicht umsonst wurde Bologna zu Beginn des 21. Jahrhunderts zum Namensgeber der europäischen Hochschulreform, die auf die Vereinheitlichung der Studienabschlüsse sowie internationalen Austausch zielt. Zukunftsweisendes auf den Fundamenten der Vergangenheit – diesem Prinzip begegnet man in Bologna ständig.
So entstand mit dem 2007 in einer alten, aufwendig restaurierten Brotfabrik eröffneten «Museo d’Arte moderna di Bologna» eines der interessantesten italienischen Museen für moderne Kunst. In den weitläufigen Räumen geht es nicht chronologisch zu, vielmehr werden die verschiedenen Stile gleichwertig behandelt. Auch interessant: Neben der Dauerausstellung sind wechselnde Shows von internationalem Format zu sehen.
Eine attraktive Metamorphose erlebte auch die ehemalige Manifattura Tabacchi. Der Architekt Aldo Rossi formte deren Jugendstilfassade in modernem Stile um. Heutzutage ist in dem Komplex die berühmte Cineteca di Bologna beherbergt, eines der wichtigsten Filmrestaurierungsarchive Europas. Die Kinemathek organisiert zudem Filmreihen, Lesungen, Treffen mit international bekannten Regisseuren – und die beliebte Open-Air-Sommer-Filmreihe auf der Piazza Maggiore, Stichwort «Kino unter den Sternen».
Futuristischer Geist in alten Mauern
Zu den Sternen griff auch das Architekturbüro Labics im Westen der Stadt. Ihr Komplex für die 2013 gegründete Fondazione MAST entpuppt sich hinter Kuben mit gleichförmigen Fassaden als vielschichtige Raumkomposition für ganz unterschiedliche Nutzungen. So befindet sich in dem Gebäude der Stiftung, die es sich zum Ziel gemacht hat, Innovationen im Bereich Kunst und Technologie zu fördern, die Innovation Gallery. Diese erzählt die Geschichte der Industrie und der Arbeit mit interaktiven, technologischen Kunst-Installationen.
Ein Highlight ist auch die Photo Gallery, in der Fotoausstellungen zum Thema Arbeit und Industrie gezeigt werden. Die Fondazione Golinelli schuf ebenfalls ein futuristisches Zentrum für Wissen und Kultur, wenn auch etwas kleiner. Auf einer 9000 Quadratmeter grossen Industriefläche entstanden Labore, Unterrichtsräume, Büros, Räume für Ausstellungen und Workshops sowie ein Auditorium. Das «Opificio Golinelli» wurde 2017 fertiggestellt.
        
            Im selben Jahr erfuhr der Prototyp des «Pavillon de L’Esprit Nouveau», von Le Corbusier ursprünglich für die Pariser Art-Déco-Ausstellung 1925 entworfen und 1977 in Bologna wiederaufgebaut, ein Facelift. Die avantgardistische Zukunftsvision in Zeiten der anschwellenden Urbanisierung hat ohnehin wenig an Aktualität eingebüsst. Ein anderer Meister seines Fachs, Kenzo Tange, konzipierte in den 60er- und 70er Jahren gleich ein ganzes Viertel neu, das Bologna Fiere – inklusive einiger der höchsten Gebäude der Stadt.
Wem dieser Business District zu quirlig ist, findet in der Umgebung ruhigere und dennoch zeitgenössische Highlights. Dazu zählen die auf ländliche Architektur fokussierten Ausstellungsräume der Fondazione Massimo e Sonia Cirulli in San Lazzaro di Savena, die 1994 vom Star-Architekten Alvar Aalto vollendete Kirche Santa Maria Assunta (stark: die asymmetrische Decke) sowie Rocchetta Mattei.
Dieses im 19. Jahrhundert errichtete burgartige Schloss zeichnet sich durch einen eklektischen Stil aus, der gotisch-mittelalterliche und maurische Einflüsse zu einem kuriosen Bauwerk verbindet. Und das auf zeitlos-moderne Art. Eben typisch für Bologna und seine Umgebung.