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Die Gischt der Victoriafälle schleudert noch weit über die Abbruchkante hinaus in den Himmel. Bild: Clinton

Adrenalin-Kick am Abgrund

Jutta Lemcke

Rafting, Abseiling, Bungee-Jumping: An den Victoriafällen auf der Grenze zwischen Simbabwe und Sambia spielt die Welt verrückt.

Spätestens am «Highway to Heaven» ist Schluss. Die Schlauchboote schwanken wie Nussschalen, geraten ins Trudeln und stürzen eins nach dem anderen um. Die mit grellroten Schwimmwesten ausgestatteten Gäste stossen spitze Schreie aus und landen laut prustend in den Strudeln des mächtigen Sambesi-Flusses.

Amon grinst vor Freude. Der Rafting-Guide liebt den Nervenkitzel im und am Wasser. Am liebsten lotst er seine Passagiere durch die gischtsprühenden Wirbel unterhalb der donnernden Victoriafälle und lässt sie an der «Autobahn zum Himmel», in der «Waschmaschine» oder am «Selbstmord» in ihren Booten wilde Kreisel drehen.

Gekreischt wird viel an diesem Ort: beim Bungee-Jumping von der stählernen Victoria Falls Brücke, beim Abseiling über zackig-scharfe Felsenwände und in der Regendusche, die auf Spaziergänger niederprasselt, die sich den mächtigen Wasserfällen nähern. Mitten in Afrika, dort wo wenige Kilometer entfernt Simbabwe, Sambia, Botswana und Namibia ein Vierländereck bilden und die Uhren gewöhnlich langsam ticken, spielen alle verrückt. Grund: die Victoriafälle – der Rauch, der donnert.

500 Millionen Liter Wasser

Doch der Rauch donnert nicht nur, er spritzt auch wie verrückt. Sue aus Japan hat ihren pinkfarbenen Regenschirm aufgespannt und trippelt Richtung Abbruchkante, wo sich das Wasser des Sambesis rund hundert Meter krachend in die Tiefe stürzt. Ein pitschnasses Pärchen in safarigrünen Ganzkörper-Regencapes und Flip-Flops kommt ihr entgegen und lächelt mitfühlend.

Wenige Minuten später weiss Sue, warum ein Regenschirm dieser Naturgewalt kaum etwas entgegensetzen kann. Mehr als 500 Millionen Liter Wasser in der Minute donnern hier bei Hochwasser auf einer Breite von mehr als 1000 Metern in die Schlucht. Die Gischt schleudert noch weit über die Abbruchkante hinaus in den Himmel, so dass sich dieser wie bei einem Unwetter verdunkelt und die Victoriafälle auch aus vielen Kilometern Entfernung zu sehen sind. Regenbögen spannen sich im Sprühnebel in perfektem Halbkreis über die Fälle, schmücken die Victoria Falls Brücke mit einem Heiligenschein und verbinden Sambia und Simbabwe rechts und links des mächtigen Flusses wie eine Himmelsbrücke. Millionen glitzernde Tröpfchen schweben durch die Luft, streicheln die Haut und benetzen einen dichten Regenwald aus Farnen und Lilien, der sich unter ihrem beständigen Geriesel gebildet hat.

Amon war schon hunderte Male da, um die krachende und sprühende Laune der Natur zu bestaunen. «Du musst die Fälle viele Male besuchen, damit du eine Ahnung von ihrer Schönheit bekommst», sagt er. «Du musst bei hohem Wasser kommen, wenn sich der Fluss in donnerndem Gefälle nach unten entlädt und bei niedrigem Wasser, wenn glitzernde Rinnsale über die dunkel schimmernden Steine perlen. Du musst morgens und abends kommen, am Tag und bei Vollmond und natürlich einmal von Simbabwe und einmal von Sambia aus.»

Pitschnass wird man in jedem Fall. Nur wer sich aus dem Himmel nähert, entgeht der Regendusche. Deshalb entscheiden sich wasserscheue Besucher für einen Flug mit dem Helikopter, der 15 Minuten lang seine Schleifen über dem grandiosen Spektakel dreht und nicht nur unvergessliche Ausblicke, sondern auch jede Menge Fotomotive bietet. Nachteil dieses attraktiven Vergnügens: Tagsüber knattert beständig ein Hubschrauber am makellos blauen Himmel und erinnert daran, dass dieses Naturschauspiel von touristischem Halligalli begleitet ist.

Livingstone kroch bis zur Kante

Die heutigen Gäste sind jedoch nicht die ersten, denen die Victoriafälle das Adrenalin ins Blut schiessen liess. Die Fälle gibt es natürlich seit Jahrtausenden, doch als Entdecker wird gewöhnlich der legendäre Missionar David Livingstone genannt. Tatsächlich hat er sie der westlichen Welt als erster in schillerndsten Farben beschrieben. Im Jahre 1855 näherte er sich mit dem Kanu und liess sich auf eine Insel am Rand des herabstürzenden Wassers bringen, die heute nach ihm benannt ist. Er war so elektrisiert von dem Schauspiel und dem Nervenkitzel der drohenden Gefahr, dass er, so sagt es die Überlieferung, bis an die Kante kroch, um in die Tiefe zu blicken, wo das Wasser des Sambesis seinen Hexentanz aufführte.

Hätte es damals ein Bungee-Jumping-Seil gegeben, so muss man vermuten, hätte Livingstone sich auf der Stelle hinuntergestürzt. Heutzutage springen Mutige von der mehr als 100 Jahre alten Victoria Falls Brücke in die Tiefe. Floyd will es wagen. Schicksalsergeben lässt sich der drahtige Mann aus Botswana die Gurte anlegen und zur Kante führen. Dann schwingt er sich wie ein Adler ins Nichts und hüpft wenige Augenblicke später wie ein Jo-Jo am Seil auf und ab. «Das war genial», erzählt er hinterher und trägt ein seeliges Grinsen im Gesicht.

Guide Amon wartet indessen geduldig, bis sich seine Gäste an der donnernden Wassershow sattgesehen haben und erwähnt, dass dieser Flecken Erde mitten in Afrika noch andere Entdeckungen bereithält. Auf der Sambia-Seite liegt der Mosi oa Tunya Nationalpark entlang des Sambesis. Hier schwingen sich Affen durchs Geäst und Elefanten naschen von den Mopane-Bäumen. Direkt am Fluss liegt das Toka Leya Camp, das nicht nur Ausflüge zu den Victoriafällen bietet, sondern auch in die ehemalige Hauptstadt Livingstone mit dem Livingstone Museum, das dem Leben und Wirken des britischen Forschers gewidmet ist.

Am Abend geht es dann ganz geruhsam mit dem Boot über den Sambesi auf der Pirsch nach Krokodilen und badenden Nilpferden. Dann klettert ein silberner Mond den Himmel hinauf, wirft eine schimmernde Spur aufs Wasser und bescheint in der Ferne wabernde Nebelsäulen – die Victoriafälle senden Rauchzeichen und locken für den nächsten Tag zu einem weiteren verrückten Abenteuer am Abgrund.