Here & There

Der überraschende Reiz von Benidorm
Gregor WaserWohin würdest du nie in die Ferien gehen? Die Frage ist unter Reiseprofis und Reisefans ein beliebtes Smalltalk-Thema. Caracas, Charleroi oder eine Cruise auf einem 6300-Passagiere-Schiff werden da etwa genannt oder auch: Benidorm.
Schliesslich wird die von 150 Wolkenkratzern geprägte Stadt an der spanischen Costa Blanca als hässlich und zubetoniert wahrgenommen – zumindest von jenen Touristen, die auf der Autopista AP-7 von Valencia Richtung Alicante unterwegs sind, bloss kurz links rüber blicken und von «Schandfleck» sprechen.
Doch stimmt diese Wahrnehmung auch wirklich?
Masterplan statt Wildwuchs
Klar, wer bei Reisezielen wie Dubai, Las Vegas, New York, Miami Beach oder Surfers Paradise ohnehin die Augen verdreht, sollte sich wohl einen Besuch in Benidorm sparen. Doch wer ein Flair für den urbanen Reiz hat, ist schon nach wenigen Stunden hier ziemlich beeindruckt.
Das einstige Fischerdorf, das sich Ende der 1950er-Jahren entschied, voll und ganz auf die Karte Tourismus zu setzen, ist nicht wie andernorts in Spanien in den Folgejahren einem Wildwuchs erlegen, sondern verfolgte stets einen Masterplan – bis heute. Grundsätzlich lautet die Devise: wir bauen in die Höhe, statt ganze Landflächen und Hügel zuzubetonieren. Die Avenidas und Calles sind überaus breit angelegt, viel Grün dazwischen, auch die Wolkenkratzer in der dritten Reihe verfügen über zumindest partielle Meersicht.
Laura Garcia, Promotorin und Marketingexpertin bei Visit Benidorm, führt das Journalisten-Trio aus Finnland, Dänemark und der Schweiz vier Tage lang durch ihre Heimatstadt: mit dem E-Mountain-Bike in die Hügel des Parque Natural Sierra Helada, entlang des breit angelegten Paseo Maritimos in die Altstadt zu den Tapa Bars, ins Fischrestaurant Marisqueria Posada del Mar, zum Sundowner in den 17. Stock des Hotels Primavera, auf die Golf Driving Range, zum Stand-up Paddling im 23 Grad warmen Mittelmeer – und beantwortet dabei alle neugierigen Journalisten-Fragen.
«Dank den Hügeln rund um die Stadt verfügen wir über ein angenehmes Mikroklima mit 320 Sonnentagen im Jahr», nennt sie einen Trumpf, um gleich darauf die Vielseitigkeit der Touristenstadt zu unterstreichen, die nach wenigen Stunden offensichtlich wird. An der Levante Beach trifft man verstärkt auf britische Partytouristen, insbesondere an der dahinter gelegenen Calle Ibiza. Familien mit Kindern tummeln sich ebenso am sehr breiten Strand, viele Rentner sind auszumachen, sowohl Einheimische wie solche aus Nordeuropa, die sich hier niedergelassen haben.
Die einheimische Bevölkerung zählt 75'000 Personen, im Hochsommer werden es zusammen mit den Touristen 400'000. Das tönt in Zeiten von Overtourism nach Stunk. Während in Barcelona Einheimische mit Wasserpistolen auf Touristen zielen, in Teneriffa und Mallorca mit Transparenten gegen die Touristenflut protestiert wird, kennt Benidorm keinen Overtourism oder Touristenüberdruss. Niemand scheint sich am anderen zu stören. Die Stadt ist für den Tourismus konzipiert, die Gästegruppen verteilen sich in der luftig gebauten Stadt überaus gut. Engpässe sind – zumindest jetzt im gut besuchten Oktober – nirgends auszumachen, allenfalls bei der Sunset-Knipserei beim Mirador del Castell herrscht ein Gerangel.
Leben und leben lassen
Wer Benidorm in den selben Sangria-Topf wie den Ballermann in Mallorca wirft, liegt jedenfalls falsch. Exzesse am Strand, Pöbeleien im Nachtleben waren bei unserem Besuch rund um das vergangene Wochenende keine auszumachen. Hier ist alles ziemlich gross angerichtet. Alleine 63 Diskotheken gibt es hier, die an 365 Tagen bis in die Morgenstunden geöffnet sind, auch beim Shopping auf den breiten Avenidas steht man sich nicht auf die Füsse, beim Jogging oder Flanieren an der drei Kilometer langen Strandpromenade ebenfalls nicht.
Die Promenade wie auch sonst die Strassenzüge sind übrigens frei von Randsteinen. Barrierefreiheit wird hier gross geschrieben, auch stufenlose Zugänge an den Strand gibt es mehrere. Senioren mit ihren Elektromobilen geniessen freie Fahrt.
Leben und leben lassen, scheint hier gross geschrieben. Ob Partytouristen, Familien, Aktivreisende oder Rentner, jeder und jede findet hier seinen Platz, auch die LGBTQ+-Community fühlt sich hier wohl, etwa in der Calle de la Santa Faz. Schliesslich gab es hier schon im Jahr 1962 die ersten Gay Bars Spaniens.
Schossen die Wolkenkratzer in den letzten 50 Jahren hier in die Höhe genauso wie die Touristenzahlen, wollen die Stadt wie auch Visit Benidorm künftig verstärkt das Augenmerk auf Qualitätstourismus legen. Es müssen nicht mehr Touristen her, dafür gerne solche, die auch tiefer in die Tasche greifen. Passend dazu hat sich das Hotelangebot im Vier- und Viersterne-Superior-Bereich zuletzt vergrössert.
Der Aufenthalt im Hotel Mercure Benidorm unterstreicht die neue Ausrichtung. Das Restaurant Malaspina bietet Gastronomie der Extraklasse. Während der Yoga-Stunde beim Pool unter Baumriesen und dem Smoothie-Tasting geht völlig vergessen, wie pulsierend ausserhalb der Hotelanlage Benidorm tickt. Auch über drei Fünfsterne-Hotels verfügt Benidorm, etwa das Asia Gardens im Thai-Stil mit üppigem, tropischen Garten und sieben Pools.
Und langweilig dürfte es wohl Benidorm-Besuchenden hier nie werden. Ob Golf, Tennis, Hiking, Cycling, Segway- oder Jeep-Touren, unzählige Wassersport-Angebote, ein Zoo oder fünf Themenparks in naher Umgebung: ein Aufenthalt in Benidorm muss nicht nur unter dem Sonnenschirm am Strand erfolgen.
Benidorm – das Fazit
Nach der Vorbeifahrt auf der Autopista A-7 vor 25 Jahren und der schnöden Bemerkung, «was für ein Schandfleck», habe ich meine Meinung revidiert. Benidorm ist ein Besuch wert, wenn man sich mit dem Setting der vielen Wolkenkratzer anfreunden kann und – falls man laute Parties nicht ertragen kann – um Mitternacht einen Bogen um die Calle Ibiza macht.
Die Befürchtung, unter einer surrealen Kuppel gefangen zu sein, wie Truman Burbank in «The Truman Show», erwies sich nach vier Tagen als unbegründet: Benidorm bietet ein durchaus authentisches Erlebnis. Das spanische Lebensgefühl kann man hier fast genauso gut erleben wie in den Gassen von Valencia oder Barcelona.
Sicherlich hat die Stadt auch mit enormen Herausforderungen zu kämpfen, etwa was die Wasserversorgung betrifft. In den letzten Jahren konnten dank verbesserten Leitungen erhebliche Einsparungen erzielt werden, hinzu kommen zwei Stauseen und die Pläne, bis ins Jahr 2035 die Hälfte des Wasserbedarfs mit einer neuen Entsalzungsanlage zu gewinnen. Passend dazu, auch dank den vielen Grünanlagen und barrierefreien Zugängen, hat es Benidorm in diesem Jahr auf die Shortlist von «Green Pioneer of Smart Tourism 2025» der europäischen Kommission geschafft – am 27. November 2024 kommt es in Brüssel zur finalen Ausmarchung.
Was mir vor allem bleibt, gerade in diesen Tagen, wo auf Teneriffa wieder Touristen-Proteste aufflammen: Benidorm scheint davon völlig verschont zu sein. Die Touristen nehmen den Einheimischen keine Wohnungen weg, stehen ihnen im Alltag nicht im Weg, obwohl sich hier im Sommer 400'000 Menschen aufhalten – weil sich die Stadt schon frühzeitig voll und ganz dem Tourismus verschrieben hat und nun nicht schleichend, wie andernorts, von Besuchern eingenommen wird.