Here & There

Es ist das grösste Theater seiner Art in Europa: Erbaut wurde das barocke Teatro Farnese im 17. Jahrhundert und liegt verborgen im Inneren des Palazzo della Pilotta. Bild: Visit Emilia

So ein Theater!

Christian Berzins

Alle reisen ins überfüllte Rom oder überteuerte Florenz. Die kleinen Städte in der Emilia-Romagna bieten genauso viel Italianità – und Überraschungen dazu.

Warum ins Schauspielhaus gehen, wenn man doch auch auf einer italienischen Piazza sitzen kann? Der Eintritt kostet keine fünf Euro, das aufgeführte Stück heisst «Die Italiener», der Spass ist gross, die Abwechslungen reich. Ob in Florenz auf der Piazza Signoria oder in Rom auf der Piazza Navona ist egal: Das Stück bleibt gleich, variiert sich jedes Mal prächtig von selbst. Toll auch, dass es selbst in der Provinz gespielt wird – dort kostet es mit allem Drumherum und Extras (Hotel, Restaurant, Taxi) sogar bloss halb so viel.

Wir haben dafür die Piazza del Duomo von Piacenza ausgewählt, und da wir die Sonntagsvorstellung besuchen, bestellen wir statt Caffè einen Cappuccino samt Cornetto mit Crema. Mit viel Crema. Und prompt erhalten wir eine Spezialvorstellung, drüben im Dom wird nämlich im 11-Uhr-Gottesdienst jemand getauft, die Protagonisten zupfen in der Bar die Kleider zurecht, ziehen sich auf der Toilette den Lippenstift nach.

Doch gemach, der Vorhang geht auch im Osten der Emilia-Romagna gerade erst auf, um 10.15 Uhr putzt sich die Piazza bei strahlender Sonne das Sandmännchen aus den Augen, zieht sich alsbald die Sonntagshose an. Noch in der Trainerhose und im T-Shirt steckt der muskulöse Besitzer des Kampfhundes, der brav wie ein Lamm zuschaut, wie sein Herrchen den Espresso runter stürzt. Der 90-jährige Signore hat mehr Zeit, band sich zu Hause passend zu den gelben Socken eine ebenso gelbe Krawatte um. Zwei Damen kommentieren das Geschehen, als müssten sie für eine Radioübertragung der Aufführung sorgen, parallel kümmern sie sich liebevoll um das lächelnde Baby vom Nebentisch, überschütten es und die Eltern mit Komplimenten. Erst werden nur die «occhioni!» – die Kulleraugen – bewundert, bald aber das kleine Wesen «miracolo!» und «amore» gerufen und darüber gewerweisst, ob es für seine sieben Monate nicht etwas klein sei.

Die Zeit verrinnt, 11.15 Uhr ist’s schon, und bereits sind 60 Minuten Piazza-Spektakel vorbei! Zeit, sich zu bewegen, zur Kirche San Sisto zu spazieren, wo wir auf eines der berühmtesten Bilder der Welt stossen. Das Hauptmotiv kennen nicht so viele, umso besser zwei Details: zwei Engelchen, die gelangweilt zusehen, wie Maria, Papst Sixtus und die Hl. Barbara auf einer Wolke posieren. In Florenz wurde das Motiv früher, als man noch Postkarten verschickte, genauso oft verkauft wie der David von Michelangelo. Das ganze Bild heisst die Sixtinische Madonna und hängt heute in Dresden, aber einst, da war es im Chor der Klosterkirche San Sisto in Piacenza zu bewundern. Wir bestaunen also bloss eine Kopie, freuen uns aber trotzdem, endlich den perfekten Originalplatz zu kennen. Dostojewski danach gefragt, warum er öfters nach Dresden fahre, um das Bild zu bewundern, sagte: «Damit ich am Menschen nicht verzweifle.»

Beten, Schinken essen und Lambrusco trinken

Bei so viel grossem Gedankengut sagen wir uns: «Ein Kunstwerk geht noch!» Der es beherbergende Palazzo Farnese scheint grösser als Schloss Versailles zu sein, drinnen steuern wir direttissimo die «Madonna mit Kind» von Sandro Botticelli an, ein Bild, das auch in den Uffizien in Florenz Kultstatus feiern würde. Schon fast wieder draussen werden wir von einer Saaldienerin abgefangen und darauf verwiesen, dass wir unbedingt das Archäologische Museum besuchen müssten und auch die Kutschensammlung nicht verpassen dürften. «Gewiss», sagen wir, «nach dem Mittagessen ...»

Die Trattoria dell’Angelo ist ausgebucht, umso prächtiger und lauter gelingt der 2. Akt des Schauspiels «Die Italiener». Die Eltern mit vier Kindern zwischen 18 und 25 am Nebentisch bestellen eine Flasche Lambrusco, der hier noch in Porzellankacheln gereicht wird. Wie auf einen heimlichen Befehl werden sie erhoben, ein Gebet gesprochen, dann der Salami aus Felino, der Prosciutto aus Parma und der Korb mit Gnoccho Fritto herumgereicht – ein frittiertes Hefegebäck, das im «Angelo» mit Käse verfeinert ist.

Wir bestellen dasselbe und wählen als Hauptgang Esel-Stracotto, Eselschmorbraten – die Alternative wären drei Pferdegerichte gewesen. Nicht nur die Pferdemetzgereien gibt es in der Emilia seit der Zeit von Napoleon bis heute, auch erfreulich überraschende Gerichte: Draussen vor den Toren Parmas im famosen Restaurant «Ai due platani» werden etwa Hasen-Ravioli oder frittierter Aal aufgetischt.

Nach der Zabaione – ein Eigelb-Alkohol-Dessert – wäre es frühestens gegen 18 Uhr empfehlenswert, den 3. Akt unseres Schauspiels in einer Weinbar zu geniessen, doch wir sind Touristen, erleben ein Intermezzo, wagen es, hinauf in die Kuppel des Domes zu steigen: Was etwa in Parma nur mit Nackenstarre und Erahnung der Details vom Boden aus möglich ist, ist dem Kunstabenteurer in Piacenza offen: Guercinos (1591–1666) riesenhafte Fresken – Pracht und Macht des 17. Jahrhunderts – erlebt man aus der himmelnahen Galerie des Domes so, als blicke man durch ein magisches Glas in die Vergangenheit.

Am Abend in Parma – der stolzesten, mächtigsten, ja vielleicht auch der schönsten der Emilia-Städte – wählen wir für den 3. Akt «Il Tabarro» unweit der Piazza Garibaldi aus. Von unserem Hochtisch aus bestaunen wir das ausgelassene Sonntagsabendritual. Was nach Trubel tönt, ist halb so wild. Parma ist wie die Nachbarn – Modena, Piacenza und Reggio – ruhig, übersichtlich, um nicht zu sagen: beschaulich. Diese Orte sind ideal, um ein langes Wochenende stressfrei zu verbringen, sind doch die Innenstädte sehr rigoros autofrei gemacht worden. Hier wird auch keiner mit Kunst überfordert (aber alleine, um die türkische Sklavin von Parmigianino zu sehen, lohnt sich der lange Gang durch die Galeria Nazionale!), die guten Restaurants und Weinbars sind an einer Hand aufgezählt, und doch erhält der Gast aus der Schweiz die gewünschte Überdosis Italianità.

Logentheater, die unsere Italiensehnsucht stillen

Ideal dafür ist auch das prächtige Teatro Reggio; obwohl der Ruhm nicht mehr derjenige von einst ist, gibt es hier nach wie vor grosse Sänger zu erleben. Aber auch in Reggio Emilia, wo einst Jahrhunderttenor Luciano Pavarotti sein Operndebüt gab, in Modena und Piacenza wird regelmässig Oper gespielt, finden in den prachtvollen Logentheatern dauernd Konzerte und Konzertchen statt, längst haben sich diese Wunderbauten auch der Unterhaltungsmusik geöffnet, obwohl Verdi der Lokalmatador bleibt.

Auch zwischen Schinken und Dosenfleisch taucht das Antlitz des Komponisten in den Salumerien auf, womit wir mitten ins bunte Morgentreiben geraten sind: 4. Akt unseres Schauspiels. Es gilt einzukaufen, Neuigkeiten zu erfahren, Altbekanntes weiterzugeben. Dafür in Parma bestens geeignet ist die Via Copelli, eine Gasse des Glücks, wo der Tourist nicht genug Geld investieren kann, gibt es hier doch die speziellsten Käse, Schinken und Salumi weit und breit. Die ältere Signora zur Rechten sagt bloss «dasselbe wie immer», links muss der Signore erst erzählen, wie es Mamma geht. «Was will man, sie ist schon 99», der Metzger nickt, schneidet am Culatello weiter, was uns ermöglicht, noch eine Nase voll des Zauberdufts «Emilia» einzuatmen, und erinnern uns an ein Kammerorchester, das krampfhaft versuchte, seine Klangspektakel mit Duft zu erweitern. Was dort misslang, gelingt in Parma problemlos. Vorhang.


Dieser Artikel erschien zunächst in der «Schweiz am Wochenende».