Here & There

Bildergalerie
8 Bilder
Die verlassenen Autoscooters auf dem Rummelplatz von Prypjat. Bilder: Roland Zeller

Tagesausflug in die Todeszone

Roland Zeller

Touristenbesuch in Tschernobyl, 31 Jahre nach der Nuklearkatastrophe: Eindrückliche Einblicke in die Geisterstadt.

Die Ukraine ist für Schweizer Touristen kaum ein Thema. Zwar hat es aber Zürich tägliche Direktflüge mit Ukraine International Airways nach Kiew und man braucht als Schweizer seit 2005 kein Visum mehr – aber ein Trendziel ist die ukrainische Hauptstadt mit Sicherheit nicht. Zu viele negative Stichworte wie Kriminalität, Bürgerkrieg und marode Infrastruktur gehen einem durch den Kopf, wenn man an die Ukraine denkt.

Dennoch hat kürzlich das Auswärtsspiel meiner favorisierten Fussballmannschaft den Ausschlag gegeben, Kiew nach über 12 Jahren wieder einen Besuch abzustatten – und ich sollte es nicht bereuen!

Kiew an sich ist eine hübsche 3-Millionen-Stadt, erstaunlich herausgeputzt, sauber, tolle Infrastruktur, breite Boulevards, der berühmte Maidan-Platz, frisch renovierte Kirchen, trendy Restaurants. Was fehlt, sind echte Sightseeing-Highlights – oder zumindest konnte ich die bei meiner Reisevorbereitung nirgends finden. Beim durchstöbern der Sightseeing-Optionen fand ich aber einen Tagesausflug nach Tschnernobyl – Tschernobyl! Nach einigen Abklärungen in Bezug auf die Sicherheit, habe ich den Tagesausflug für rund 150 Franken pro Person gebucht und war sehr gespannt, was uns erwartet.

Seit dem Reaktor-Unfall im April 1986 ist der Name Tschernobyl wohl jedem ein Begriff. Nur wenigen ist aber bewusst, dass Tschernobyl nur 95 Kilometer Luftlinie von der Millionenstadt Kiew entfernt liegt und die über 30 Jahre zurückliegenden Nuklearkatastrophe bis heute nachwirkt. Rund um den explodierten Reaktor Nummer 4, wurde eine Sperrzone mit einem Radius von 37 Kilometer eingerichtet – einer Fläche grösser als Luxemburg. Aus diesem Sperrgebiet wurden insgesamt über 300'000 Einwohner evakuiert, respektive dauerhaft umgesiedelt. Insbesondere die 50’000 Einwohner der nahe am Reaktor liegenden Stadt Prypjat hatten nur einige Stunden Zeit um Ihre Häuser zu verlassen – seitdem ist die Stadt zur Geisterstadt verkommen und alles ist dort noch genau so, wie damals im Mai 1986.

Lange Hosen, geschlossene Schuhe

Wir fahren am frühen Vormittag von unserem zentral gelegenen Hotel in Kiew los und bekommen während der Fahrt ein Video über den Ablauf der Atomkatastrophe zu sehen. Nach einer Stunde werden die Strassen immer holpriger und der Gegenverkehr spärlicher. So erreichen wir nach rund 90 Minuten die erste Schranke der Sperrzone. Unsere Pässe und die im voraus erteilten Genehmigungen werden kontrolliert und wir werden nochmals daran erinnert, dass wir das Sperrgebiet nur mit langen Hosen und Ärmeln und geschlossenen Schuhen betreten dürfen – was bei rund 30 Grad nicht selbstverständlich ist. Zudem wird jedem Teilnehmer ein Geigerzähler in der Grösse eines Mobiltelefons ausgehändigt, um die Strahlung messen zu können.

Als erstes gelangen wir in die Stadt Tschernobyl. Obschon ihr Name für das Reaktorunglück steht, liegt die Stadt rund 20 Kilometer vom Reaktor entfernt und ist deshalb zum Teil wieder bevölkert. Gewisse Einwohner haben die Stadt auf eigenens Risiko wieder besiedelt, andere kommen hier tagsüber her, um ihren Geschäften nachzugehen. Es ist aber nicht zu übersehen, dass hier seit Jahrzehnten nichts investiert wurde – viele Gebäude zerfallen ganz einfach, aber eine gewisse Infrastruktur ist vorhanden. Auch eine Lenin-Statue ist noch irgendwo zu sehen.

Weiter geht es zu einer gigantischen Radarstation aus Sowjet-Zeiten, die mit ihren über Zweitausend Mitarbeitern ebenfalls über Nacht evakuiert und deshalb nutzlos wurde. Heute wird die riesige Anlage von nur einem Wachmann betreut und nach kurzer Kontrolle der Papiere kann man sich auf dem riesigen, ehemals hoch geheimen, Gelände frei bewegen. Weiter gehts auf der Hauptstrasse Richtung Reaktor, vorbei an kleinen Dörfern, die alle verlassen sind. Gruslig ist der Besuch in einem leeren, dem Zerfall überlassenen Kindergarten, wo überall altes Spielzeug, Puppen und alte Kinderbetten rumliegen.

Die Symbole der «Zeitkapsel Prypjat»

Nach einer weiteren Kontrolle steht man plötzlich unmittelbar vor dem berühmten «Reaktor Nummer 4», wo die fatale Explosion passierte. Man kommt erstaunlich nahe an das riesige Bauwerk heran, das mittlerweile von zwei verschiedenen, gigantischen Schutzhüllen (Sarkophage) von der Aussenweilt abgeschirmt ist. Ein kurzer Blick auf den Geigerzähler bestätigt, dass der Strahlenwert hier zwar erhöht, aber noch innerhalb des Grenzwertes liegt. Ungefährlich, sofern man sich nicht täglich hier aufhält.

Nachdem alle ihre «Tschernobyl-Reaktor-Fotos» geschossen haben, geht es weiter nach Prypjat, der eigentlichen Geisterstadt unmittelbar neben dem Reaktor. Die Stadt wurde 1970 eigens für den Bau und den Betrieb des Atomkraftwerks gebaut und als sowjetische Modellstadt mit allen Annehmlichkeiten der damaligen Zeit ausgestattet. Mit unserem Guide können wir uns frei in der Geisterstadt bewegen. Besonders beeindruckend sind der verwaiste Supermarkt, das leere Hallenbad oder der zentrale Platz mit dem Kulturpalast. Und natürlich darf auch ein Besuch auf dem verwaisten Rummelplatz mit seinem Riesenrad und den verwaschenen Autoscooters nicht fehlen – diese sind mittlerweile zum Symbol der «Zeitkapsel Prypjat» geworden. Insgesamt fühlt es sich an wie in einem Horrorfilm im Stile von «I am Legend» – gruslig!

Kaum einer in unserer Gruppe ist von dieser Tour nicht berührt – auf dem zweistündigen Rückweg nach Kiew sieht man einige nachdenkliche Gesichter. Insgesamt war der Besuch in der Sperrzone nicht gefährlich, das beweisen unsere Geigerzähler und die finale Strahlenkontrolle beim letzten Checkpoint. Gefährlicher als die Radioaktivität, sagt unser Guide, sind sowieso die baufälligen Gebäude, welche teilweise für Touristen gesperrt sind.

Wie bei anderen fragwürdigen Ausflügen im Bereich «Katastrophen-Tourismus», muss man sich natürlich auch hier die Frage stellen, ob ein Besuch von Tschernobyl angesichts der vielen Todesopfer und Langzeitfolgen überhaupt angebracht ist. Im Fall von Tschernobyl kann ich das auf jeden Fall bejahen. Einerseits öffnet es einem breiten Publikum die Augen, was bei einem Reaktorunfall passieren kann – und was die Langzeitfolgen sind. Andererseits bringt der Besuch von jährlich über 10'000 Touristen auch ein wenig Geld in die leere Kasse der lokalen Regierung, die mit den sozialen, ökologischen und ökonomischen Folgen des Unfalls bis heute zu kämpfen hat.