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Der Twiliner-Nachtbus am Zürcher Sihlquai: Mit voll ausfahrbaren Schlafsitzen will das Schweizer Start-up eine neue Ära des komfortablen, nachhaltigen Reisens einläuten. Bild: TN

Erobert der neue Schweizer Nachtbus jetzt Europa?

Reto Suter

Der neue Luxus-Schlafbus Twiliner sorgt für viel Gesprächsstoff – und wohlwollende Reaktionen von Experten. Doch bei aller Euphorie: Kenner des Markts benennen auch klare Bedingungen, die erfüllt sein müssen, damit das Schweizer Start-up richtig Fahrt aufnehmen kann.

Das Schweizer Start-up Twiliner will nichts weniger, als den Langstrecken-Nachtreiseverkehr revolutionieren – mit Luxus-Bussen, die die Schweiz mit europäischen Metropolen verbinden und gleichermassen für Privat- wie für Geschäftsreisende interessant sein sollen. Die speziell entwickelten Sitze lassen sich per Knopfdruck vollständig waagrecht stellen und verwandeln sich so in ein nahezu vollwertiges Bett.

Nach fast fünf Jahren Entwicklung – inklusive aufwändiger Tests und eines eigens entwickelten Rückhaltesystems für liegende Fahrgäste – ist es nun soweit: Diese Woche starten die ersten beiden Linien ab Zürich in den regulären Betrieb Richtung Amsterdam (via Brüssel) und Barcelona. Dreimal pro Woche rollen die Busse los, zum Start mit zwei Cars, ein dritter Bus soll Ende Dezember zur Flotte stossen.

Twiliner sieht sich als Lückenfüller im europäischen Mobilitätsangebot. Immer mehr Reisende möchten heute aus Umweltgründen, wegen fehlendem Komfort oder aufgrund von Flugangst weniger fliegen. Gleichzeitig wollen viele Menschen ihre Reisezeit effizient nutzen, den Tag am Zielort früh beginnen, eine Hotelnacht sparen und zudem ohne strikte Gepäckbestimmungen reisen.

Genau hier setzt Twiliner an – mit einer nachhaltigen, komfortablen Alternative zu Nachtzügen und Kurzstreckenflügen. Klingt verlockend, klingt nach Zukunft. Doch ist die Idee wirklich so erfolgsversprechend, wenn andere Anbieter mit ähnlichen Konzepten zuvor gescheitert sind? Travelnews hat bei einem führenden Mobilitäts-Experten und ausgewiesenen Bus-Spezialisten nachgefragt, wie sie das Angebot von Twiliner beurteilen.

Mehrere Schlüssel zum Erfolg

Thomas Meier von Twerenbold.

Thomas Meier, Geschäftsleiter von Twerenbold Reisen, sieht durchaus Chancen für Twiliner. Er sagt: «Das Produkt ist sehr innovativ, eine echte Alternative zu Nachtzug und Kurzstreckenflug.»

Es sei bequemer als der Nachtzug und ökologischer als der Flug. «Eigentlich müsste dafür auch ein Markt vorhanden sein. Die Frage ist immer, wie schnell weicht ein potenzieller Kunde von seiner gewohnten Reiseform ab?»

Die meisten Twerenbold-Gäste wählen laut Meier ganz bewusst den Bus – und das nicht nur aus Preis- oder Umweltgründen. «Unsere Kundinnen und Kunden schätzen vor allem den hohen Komfort unserer Königsklasse-Fahrzeuge», sagt der Geschäftsleiter. Während luxuriöse Ausstattung andernorts die Ausnahme sei, gehöre sie bei Twerenbold zum Standard: Rund drei Viertel aller Reisen würden mit den 30-plätzigen 5-Sterne-Bussen durchgeführt.

Auch wer aus ökologischen Überlegungen aufs Fliegen verzichte, treffe damit eine kluge Wahl. «Ein moderner Euro-6-Bus verbraucht lediglich 20 bis 25 Liter Diesel auf 100 Kilometer», erklärt Meier. «Umgerechnet auf den einzelnen Gast entspricht das weniger als einem Liter – ein Wert, den kaum ein anderes Verkehrsmittel erreicht.»

Patrick Nussbaumer von Eurobus.

Patrick Nussbaumer, Geschäftsführer der Eurobus Gruppe, beurteilt Twiliner ebenfalls positiv. Das Angebot sei eine sinnvolle Ergänzung zum bestehenden Mobilitätsmarkt und in dieser Form tatsächlich neu.

«Revolutionär ist es insofern, als in Europa bisher niemand Schlafsitze in vollständig waagrechter Position angeboten hat», sagt er. Ähnliche Konzepte seien zwar aus Südamerika und Asien bekannt, auf dem hiesigen Markt sei Twiliner jedoch ein Novum.

Besonders grosses Potenzial sieht Nussbaumer auf den Nordrouten. «Die Verbindung Richtung Brüssel und Amsterdam könnte sehr erfolgreich werden. Viele Behörden- und Politikvertreter dürfen auf kürzeren Strecken nicht mehr fliegen – für sie ist eine komfortable Nachtbusverbindung direkt ins EU-Zentrum höchst attraktiv.»

Zur Strecke nach Barcelona äussert er hingegen gewisse Vorbehalte. Twiliner richte sich preislich klar an Geschäftsreisende und Kundinnen und Kunden mit gehobenem Budget. «Für Backpacker ist das keine Alternative zum Zug oder dem Billigflug», so Nussbaumer. Grundsätzlich traue er dem Start-up aber den Durchbruch zu: «Flixbus setzt auf Masse – Twiliner setzt auf Qualität. Das kann funktionieren.»

Entscheidend sei das Routennetz. Setze Twiliner konsequent auf Destinationen, die mit Zug oder Flugzeug schlecht erschlossen seien, könne das Konzept aufgehen. Und der vermeintliche Zeitnachteil gegenüber dem Flug relativiere sich oft, merkt Nussbaumer an: «Berücksichtigt man die langen Vorlaufzeiten am Flughafen und die häufig weiten Wege in die Stadt, liegen Nachtbusse, die direkt im Zentrum starten und ankommen, zeitlich gar nicht so weit vom Flug entfernt.»

Wichtig anzumerken: Eurobus übernimmt gegen Entgelt die Reinigung der Fahrzeuge, die tagsüber auf dem Eurobus-Areal stehen, ist aber nicht an Twiliner beteiligt.

Gleich lange Spiesse gefordert

Thomas Sauter-Servaes (ZHAW).

Auch Mobilitäts-Experte Thomas Sauter-Servaes, Dozent an der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften (ZHAW), sieht bei Twiliner Potenzial. «Die Auftaktstrecken von Twiliner sind clever gewählt», findet er.

«Beide Verbindungen weisen ein hohes Fluggastaufkommen auf.» Ab Zürich verzeichne das Flugziel Amsterdam nach London und Berlin die drittstärksten Passagierzahlen. Barcelona sei das beliebteste Reiseziel der Schweizer Reisenden im Mittelmeerraum.

«Angesichts der verhältnismässig kleinen Kapazitäten des neuen Nachtbusangebots stehen die Chancen gut, dass Twiliner in diesen nachfragestarken Märkten zeitnah rentable Auslastungsgrade seiner Premiumbusse erreicht», so der Mobilitäts-Experte. «Die wachsende Sensibilisierung für das Thema Nachhaltigkeit, generelle Flugangst und die Neugier am innovativen Servicedesign versprechen eine Nachfrage, wie wir sie aus dem Nachtzugsegment kennen.»

Um deutlich zu wachsen, brauche Twiliner wie sein Pendant auf der Schiene schnellstmöglich einen fairen Wettbewerb im Fernverkehrsmarkt. «Aktuell begleichen die Operateure im Luftverkehr nur einen Bruchteil ihrer wahren Klimakosten. Solange nachhaltigere Reisealternativen wie Twiliner auf den grünen Goodwill der Reisenden angewiesen sind, werden sie nur eine limitierte Zielgruppe ansprechen können», erklärt Sauter-Servaes.

Er könne sich gut vorstellen, dass viele Reisende das Twiliner-Angebot in Kombination mit anderen Verkehrsmitteln nutzen werden: zum Beispiel hin mit dem Twiliner, zurück mit dem Flugzeug. «So kann die neue Reiseoption eine ausgeschlafene Vormittagsankunft statt eines stressigen Morgenflugs bedeuten.» Auch biete Twiliner eine komfortable Abwechslung zum ewig gleichen Kurzstreckenflug-Prozedere, vergleichbar mit dem Wechsel von der globalen Hotelkette ins Design-Boutique-Hotel.

Twiliner hat ohne Zweifel einen Nerv getroffen: Bequemer als der Nachtzug, nachhaltiger als der Flug, innovativer als alles, was bisher auf Europas Strassen unterwegs war. Die Reaktionen der Experten zeigen: Das Konzept hat Potenzial. Aber nur, wenn das Start-up die richtigen Strecken wählt, die Preise mit höchster Qualität rechtfertigt und ihm im unfairen Wettbewerb mit dem Flugverkehr nicht die Puste ausgeht.

Gelingt diese Gratwanderung, könnte der violette Schlafbus mehr sein als ein mutiges Experiment: der Beginn einer neuen Art des Reisens in Europa.