Trips & Travellers
«Tulum ist mehr Schein als Sein»
Andreas GüntertRiviera Maya, Tulum: Da beginnt bei vielen Travellers gleich das Kopfkino zu rattern: Denn dieses Sehnsuchtsziel in México hat seinen ganz eigenen Lifestyle. Strand und Dschungel, Maya-Ruinen, türkisfarbenes karibisches Meer, spirituelle Retreats und eine hochpreisige Hotel-Szene, die sich dem Öko-Chic verschrieben hat.
Doch in den letzten Jahren hat das perfekte Ferienziel auf der mexikanischen Halbinsel Yucatán Risse bekommen. Was ist passiert mit der magischen Destination, die auf Instagram ein so faszinierendes Image hat?
Riviera Maya: 150 Kilometer karibische Küste
Darüber spricht der Internaut mit Reto D. Rüfenacht. Der Schweizer Touristiker kennt Tulum und die Riviera Maya mit ihren 150 Kilometer karibischen Stränden seit über 30 Jahren. Rüfenacht hat auch beruflich miterlebt, wie der Ferienort über seine Grenzen gewachsen ist.
Reto, wann warst Du zum ersten Mal in Tulum?
Das war 1987. Tulum war damals noch sehr basic, es gab nur gerade eine Sandpiste dorthin, plus vier bis fünf Bungalow-Hotels hinter den Dünen. Eine Ruhe-Oase, weil es die Touristen zu dieser Zeit kaum je über Cancun hinaus schafften.
Wie oft warst Du seither dort und wie hat sich Tulum entwickelt?
Im Schnitt reise ich einmal pro Jahr nach Tulum, zum letzten Mal vor drei Monaten. Heute sind es 150 Hotels, der Ort ist stark gewachsen. Die sozialen Medien und die Erfindung des Marketing-Titels «Riviera Maya» haben sicher ihren Teil daran, dass sich der Ort, wo früher nichts war, nicht mal ein Fischerort, zum internationalen Sehnsuchtsort entwickelt hat.
Dem Sog von Tulum erlag ich ehrlich gesagt auch, reiste im Januar 2023 zum ersten Mal hin – und wurde nicht ganz warm damit. Unter anderem deshalb, weil mir das Mexikanische fehlte in Tulum. Kannst Du das verstehen?
Das verstehe ich sogar sehr gut. Tulum wurde touristisch nicht von den Mexikanern entdeckt und erschaffen, sondern von europäischen Post-Hippies, die dort im Dschungel und an den Mangrovensümpfen billig zu Land kamen. Ebenso wie auch eine gewisse Bohème aus Chile, Argentinien und später Touristen aus den USA, die Tulum auf Ausflügen von Cancun als «hidden paradise» entdeckten. Aus der einstigen Oase der Ruhe wurde über die Jahre eine Bumm-Bumm-Destination, die vom Image einer Yoga-, Öko- und Bio-Müesli-Destination lebt.
In den letzten Jahren sorgte unter anderem der Dokumentarfilm «The Dark Side of Tulum» für Furore. Darin werden die Folgen für die Natur beklagt, mit Abfallhalden im Dschungel, Fäkalien in den Cenoten und der gänzlichen Abwesenheit eines touristischen Masterplans. Trifft das zu?
Das ist leider wirklich so. Die Behörden haben die Entwicklung so wohl nicht vorausgesehen und nicht gelenkt. Mit der Folge, dass man dort, wo Elektrizität und Wasserversorgung nicht hin reichen, Diesel-Generatoren im Betrieb hat und Wasser-Lastwagen zur Versorgung braucht. Auch eine Erstreinigung der Fäkalien fehlt. Die Angestellten vor Ort reisen oft von weit her an, weil sich die lokale Maya-Bevölkerung nicht wie international gewünscht in eine touristische Service-Dienstleistung eingliedern lässt.
Möglich, dass die Entwicklung in anderen Destinationen und Resorts der Riviera Maya ähnlich läuft. Aber all das kontrastiert schon ziemlich hart mit Tulums Image als Öko-Destination…
…das ist so. Tulum ist mehr Schein als Sein.
Rätst Du Deinen Gästen an der Riviera Maya trotzdem zu einem Aufenthalt in Tulum?
Man muss es wohl einmal selber gesehen und erlebt haben. Aber Reisenden, die einen echten Bezug zu Mexiko haben und erleben wollen, rate ich, einen Bogen um Tulum zu machen.
Früher verlief die touristische Karriere oft nach dem «Lonely-Planet»-Muster: Zuerst entdecken Backpacker einen Ort, empfehlen ihn weiter, besiedeln und bebauen ihn – und über die Jahre machen grosse Hotelketten und Tourismukonzerne die Destination zum Mainstream. Läuft das immer noch so?
Das Muster scheint mir heute anders: Zuerst kommen Sportler wie Wellenreiter und Kitesurfer, dann entwickelt der Ort über soziale Medien wie Instagram oder Tiktok Sogkraft – und dann verläuft die Entwicklung weiter wie geschildert.
Welchen Einfluss werden der neue Flughafen und die neue Bahnlinie auf Yucatán, der Tren Maya, haben?
Wir werden es sehen. Der neue Flughafen von Tulum liegt meines Erachtens zu weit weg von der Destination, mit einer Anreisezeit von über einer Stunde ist das nicht ideal. Ich bin gespannt, ob internationale Airlines diesen Pampa-Airport anfliegen werden. Den Tren Maya finde ich eine gute Sache, weil er viele Haltestellen aufweist und kleinere Gebiete auf der Halbinsel Yucatán erschliesst.
Kleinere Gebiete, die dann ebenfalls die unrühmliche Karriere von Tulum einschlagen?
Das muss nicht zwingend so sein. Wenn ein Ort bezüglich der Erreichbarkeit weiter entfernt liegt von den grossen Zentren wie Cancun und Playa del Carmen und eine eher kleine Infrastruktur bietet, hat er eine gute Chance, eine gewisse Ursprünglichkeit zu behalten.
Welche Orte empfiehlst Du México-Fans, die mehr Sein als Schein suchen auf der Halbinsel Yucatán und an der Riviera Maya?
An der Südküste Yucatáns sind Orte wie Xcalac und die Lagune von Bacalar sicher ursprünglicher. In Bacalar scheint mir der Yoga-Groove noch etwas weniger industrialisiert, dort gibt es kleinere Boutique-Hotels und mehr freie Fläche als in Tulum. Ebenso empfehlenswert finde ich den Strandort Mahahual – wenn dort im vier Kilometer entfernten Kreuzfahrthafen Costa Maya Port nicht gerade grosse Schiffe anlegen.
Zudem gibt es in der Nähe des Nationalparks Sian Ka’an ein paar kleinere Anlagen, die ihren Reiz haben. In der Nähe von Cancun gefällt mir die Insel Isla Mujeres, die Playa Norte dort gehört für mich zu den schönsten Sandstränden der Gegend. Ich habe diesen Ort während der Pandemie für mich neu entdeckt. Ebenfalls empfehlenswert finde ich die Insel Holbox, auch wenn man dort mit Abwasserproblemen zu kämpfen hat.
Ein grosses Thema wurde in letzter Zeit die sogenannte «Tourism Leakage». Also die Problematik, dass unsere Ferienausgaben selten vor Ort bleiben und der lokalen Bevölkerung nützen, sondern in die Zentralen internationaler Konzerne fliessen. Wie kann man das umgehen?
Indem man nicht immer gleich das Hotel bucht, dass bei Booking.com zuoberst steht. Eine gewisse Vorab-Recherche kann dabei sicher helfen. Und der Gang zum spezialisierten Reiseberater ebenfalls. In Tulum wird man es wohl an vielen Orten mit dieser Tourism Leakage zu tun bekommen. Vielleicht noch etwas weniger im Tulum Pueblo, wo es noch einige kleine lokale oder regionale Hotelbetreiber gibt.
Wie beurteilst Du die Sicherheitslage in Tulum?
Ich denke, es hat sich in den letzten paar Jahren gebessert. Eine Polizei-Patrouille dann und wann sorgt bei mir für ein gewisses Sicherheitsgefühl. Wer nicht ungeschützt 1000 US-Dollar am Bankomat herauslässt, mit riesigen Trinkgeldern oder einer Rolex protzt, hat in aller Regel nichts zu befürchen.
Die Algenplage, das sogenannte Sargasso, wurde in den letzten Jahren zum grösseren Problem an den Stränden der Riviera Maya. Wie informierst Du Dich da?
Indem ich auf meinem Smartphone zwei oder drei Sargasso-Alerts abonniert habe und so jederzeit auf dem aktuellen Stand bin.
Vom Schweizer Ökonom Bruno S. Frey stammt die Idee, dass man Massenziele künstlich nachbauen und regulieren könnte, damit das Original nicht mehr weiteren Schaden nimmt. Frey hat das am Beispiel von Venedig durchgedacht und diesen Replika-Ansatz damit populär gemacht. Was hältst Du davon?
Ehrlich gesagt nicht besonders viel. Ich finde es einen besseren Ansatz, Touristen zu sensibilisieren und sie auf dieses Thema einzustimmen: Schätzen und erhalten, was es an Schönem und Ursprünglichem gibt.