Trips & Travellers

Blick auf Singapurs Lichtermeer – aus dem Infinity-Pool des Hotels Marina Bay Sands. Bild: Adobe Stock

Pool Position beim Nacht-Grand-Prix in Singapur

Bernd Linnhoff

Am kommenden Formel-1-Wochenende werden wieder tausende Lichter den Strassenkurs an der Marina Bay in gleissendes Licht tauchen. Das Spektakel verfolgen lässt sich in schwindelnder Höhe.

Das waren noch Zeiten, als der Grand Prix von Monaco der High Society Event der Formel 1 war und die Gesellschaftsspalten der einschlägigen People-Magazine dominierte. Dann schlug mit der Easyjet-Generation das gemeine Volk im Fürstentum auf, und jetzt ist Singapur the place to be. Drei Tage lang befindet sich der südostasiatische Stadtstaat alljährlich im Ausnahmezustand.

Wer ein Ticket für ein komplettes Wochenende erotischen Motorendröhnens ergattert, schnuppert am exklusiven Treiben der Reichen und Schönen. Prominente aus aller Welt und natürlich leidenschaftliche Fans der Vollgasszene fliegen ein. «In diesen Tagen», sagt ein Einheimischer, «sieht man hier mehr ang mohs als ansässige Singapurer.» Ang moh bedeutet wörtlich «rothaarig», wird aber in Malaysia und Singapur als Synonym für «weisser Mensch» benutzt.

Am kommenden Wochenende werden wieder tausende Lichter den Strassenkurs an der Marina Bay in gleissendes Licht tauchen, wenn Weltmeister Max Verstappen seine Rekordserie von zehn Siegen in Folge ausbauen will. Das Nachtrennen ist das spektakulärste im Königsklassen-Kalender, eingerahmt vom spektakulärsten Unterhaltungsprogramm, diesmal mit Robbie Williams, US-Rapper Post Malone, den Alternativ-Rockern Kings of Leon und etlichen asiatischen Grössen.

Wer junge Frauen kreischen hören möchte, sollte versuchen, ein Ticket für den Gig von Jackson Wang zu erstehen. Nie gehört? Wie buchstabiert man Superstar? Der 29-Jährige aus Hongkong ist Rapper, Singer-Songwriter, Tänzer, Mitglied der südkoreanischen Boyband Got7, Gründer und Kreativdirektor des Plattenlabels Team Wang sowie Hauptdesigner für dessen Tochtermodemarke Team Wang Design.

Singapurs Wahnsinnswochenende

Niemand wird per Zufall in Singapurs Wahnsinnswochenende gespült. Mal abgesehen von mir und meinem steten Reisepartner Uwe, von allen nur Disco genannt, weil er 1982 in seiner Schule als erster einen Sony Walkman besass. Discos Geburtstag fällt in den September, und einmal, es war vor der Covid-Pandemie, wollte er sich und auch mir etwas Besonderes gönnen: eine Übernachtung im Hotel Marina Bay Sands. So buchte er dort, mit Monaten Vorlauf, für Mitte September eine Nacht von Sonntag auf Montag. In der billigsten Zimmerkategorie, für die Kleinigkeit von 450 Schweizer Franken. Ohne Frühstück.

Planschen über den Dächern von Singapur, ist ein eindrückliches Erlebnis. Bild: BL

Was ist so besonders an dieser Unterkunft, die ebenso gut oder noch passender in Las Vegas stehen könnte? Schließlich wurde sie von der Gruppe Las Vegas Sands erbaut.

Architekt Moshe Safdie sollte im Auftrag des Stadtstaates ein urbanes Zentrum schaffen für die Bedürfnisse der Einheimischen und der Touristen. In Zahlen sah und sieht das so aus: 2561 Zimmer, 55 Stockwerke. Im ersten Casino Singapurs auf vier Etagen 600 Spieltische und 2300 einarmige Banditen (Spielautomaten). Mehr als 170 Luxus Boutiquen. Nachtclubs, Spas, zwei Kunsttheater, 46 Restaurants der gehobenen Küche, Konzerte, Galas. Im ArtScience Museum, geformt wie eine Lotusblüte, bestaunt der Besucher multimediale Ausstellungen der grössten Künstler aller Zeiten. Wer bei diesem Angebot den Hotelkomplex verlässt, interessiert sich wirklich für Singapur. Die drinnen bleiben, fällen Entscheidungen unter Druck: Was mache ich mit, was lasse ich weg?

Hoch oben im Skypark

Als Disco und ich schliesslich aus Bangkok eintrafen und eincheckten, wussten wir natürlich längst, dass wir im Auge des Formel-Eins-Hurrikans logieren würden. Zahlreiche Teams hatten seit Tagen ihr Quartier im Hotel aufgeschlagen. Natürlich besassen wir keine Tickets fürs Rennen am Abend. Nachdem wir unser erstaunlich unspektakuläres Zimmer bezogen hatten, genossen wir im Restaurant der riesigen Eingangshalle erst einmal den Brunch für 35 Franken; er geriet ein wenig aus den Fugen und endete als Gelage. Voll gestopft mit Köstlichkeiten und nahezu bewegungsunfähig, verschoben wir das geplante Planschen im Pool auf den Abend. Erst kurz vor Beginn des Rennens um 19 Uhr fuhren wir hoch zum Skypark. Dort, auf einer Art steinernem Surfbrett über den drei Hotelgebäuden, in 200 Metern Höhe über der Stadt, wartet die eigentliche Attraktion der Nobelherberge Marina Bay Sands: Der Swimmingpool.

Wer vergeblich auf Eintrittskarten für den Vollgas-Event hofft, sollte es uns nachmachen und vertikal auf Distanz gehen, um das Rennen in einer fast surrealen Dimension zu erleben: mitten in einem angenehm temperierten, 150 m langen Pool, dem in dieser Länge höchsten Hotelschwimmbecken der Welt. Von dort richtet der wortwörtlich geneigte Zuschauer den Blick hinunter in die Häuserschluchten und auf F1-Boliden im Matchbox-Format.

Lärmiger Nacht-Grand-Prix in Singapur. Bild: BL

Dank der Grossbildschirme am Beckenrand weiss er jederzeit, ob Lewis Hamilton wieder hinterherfährt oder Carlos Sainz im Ferrari ausnahmsweise Verstappens Red-Bull-Geschoss überholt. Selbst auf das Röhren der Motoren mussten wir unterm freien Himmel nicht verzichten; der Lärm aus 200 Metern Tiefe erreichte unsere Ohren nahezu ungebremst. So erlebten wir die Formel 1 in der Pool Position und im Audioformat.  

Zumindest bis 2029 wird sie weiter ihre Runden in Singapur drehen. Seit 2008 tut sie das mittlerweile, was wesentlich Ong Beng Seng zu verdanken ist, dem Immobilien-Tycoon und Besitzer diverser Hotels im asiatisch-pazifischen Raum. Er holte das Rennen an die Marina Bay, er hält die Rechte an der Veranstaltung und hat mit seinem Team dafür gesorgt, dass das moderne Singapur dem alteingesessenen Konkurrenten Monaco die Schau gestohlen hat.

Aktuell aber steht Ong Beng Seng im Zentrum eines Skandals, der den autoritär geführten und auf sauberes Image bedachten Stadtstaat in den Grundfesten erschütterte. Es soll um Bestechung gehen, doch nichts Genaues weiss man nicht, wie es so schön heisst. Wie auch immer: Ong Beng Seng, einer der reichsten Bürger am Ort, wurde im Juli verhaftet, Transportminister S Iswaran ebenso. Beide sind derzeit gegen Kaution auf freiem Fuss, die Untersuchungen laufen weiter, man will wohl erst das Rennen ohne unangenehme Nebengeräusche ins Ziel bringen. Kurzfristig schien gar die Austragung des Nacht Grand Prix 2023 gefährdet, ehe Handels- und Industrieminister Goh Chok Tong hochoffiziell verkündete: The show will go on.  

Mein Reisegefährte Disco feiert seinen Geburtstag in diesem Jahr in Bangkok, das billigste Zimmer im Hotel Marina Bay Sands kostet am kommenden Wochenende 1.276,30 Schweizer Franken die Nacht. Ohne Frühstück.


Bernd Linnhoff ist Travelblogger (Faszination Fernost) und Autor des Buches «Thailand unter der Haut». Er lebt in Chiang Mai und Bangkok.