Trips & Travellers

Mit Höchstgeschwindigkeit durch die Volksrepublik
Artur K. VogelÜber China zu schreiben geht nicht ohne Warnhinweise: Wer sich schon in der Schweiz von chinesischen Reisegruppen bedrängt fühlt, muss wissen, dass diese natürlich im Land selber noch geballter auftreten und an touristischen Hotspots ein unglaubliches Gestosse und Gedränge anrichten. Und wer sich in der Schweiz gegen zu viel Überwachung wehrt, wird in China seine Wunder erleben: Auf jeder Kreuzung jeder Stadt spionieren Batterien von Videokameras in allen Richtungen. In Hotels werden beim Einchecken die biometrischen Daten erfasst. Und in Shanghai haben wir eine öffentliche Toilette besucht, in der man Toilettenpapier erst bekommt, wenn man sein Gesicht hat scannen lassen.
Nicht nur in der Überwachungstechnik, auch bei den Eisenbahnen ist China führend. Die erste Hiochgeschwindigkeitsstrecke wurde 2008 für die Olympischen Sommerspiele gelegt: 117 Kilometer zwischen Peking und Tianjin. Seither (in nur 15 Jahren!) ist das Netz auf rund 40‘000 Kilometer angewachsen und überzieht das ganze Land, vor allem aber dessen dichter besiedelte östliche Hälfte. Nochmals rund 30‘000 Kilometer sollen bis 2035 folgen.
Solche Leistungen sind nur unter einem diktatorischen Regime möglich, das keine Opposition, keine Einsprachen und keine Lohnverhandlungen zulässt. Jedes Rentabilitätsdenken wurde ausser Acht gelassen; gewisse Strecken fahren massive Defizite ein; viele überdimensionierte Bahnhöfe sind halb leer. Das gigantische Projekt wird von vielen hinter vorgehaltener Hand für die gegenwärtige Wirtschaftsmisere mitverantwortlich gemacht.

Doch auch die Erfolge sind beträchtlich: Die Eisenbahn ist heute in ganz Chinas das wichtigste Verkehrsmittel und hat Inlandflüge, die viel umweltschädlicher sind, stark zurückgedrängt.
Faule Pandas
In Chengdu, 2000 Kilometer westlich von Shanghai, haben wir die Panda-Forschungs- und Aufzuchtstation besucht und dabei einiges über die Bambusbären und einiges über chinesische Touristen gelernt: Die 16-Millionen-Stadt auf 550 Metern Höhe liegt viel zu tief für die Pandas, die im Sommer auf 2700 bis 4000 Metern leben. Ob sie deshalb zu faul sind, um sich zu paaren, weshalb Nachwuchs nur durch künstliche Befruchtung zustande kommt?
Um nahe genug an diesen Nachwuchs heranzukommen und mit dem Handy ein Jöh-Foto zu schiessen, muss man sich wie die Chinesen mit Händen, Füssen und Ellenbogen einen Weg durch die Menge der Schaulustigen bahnen.
Der Hochgeschwindigkeitszug von Chengdu nach Xi’An ist bis auf den letzten Sitzplatz voll. Wahnsinnig schnell ist er nicht: Für die 750 Kilometer braucht er vier Stunden. Allerdings geht es dabei durch kurvenreiche, gebirgige Gegenden, und der Zug hält an einem halben Dutzend Stationen. Getränke werden serviert, zu Preisen wie in der Schweiz: ein Kaffee im Pappbecher für umgerechnet viereinhalb Franken. Zuvor, in der Altstadt von Chengdu, haben wir in einer Garküche eine köstliche Raviolisuppe für rund drei Franken serviert bekommen.

Der Nordbahnhof von Xi’An, der Hauptstadt der Provinz Shaanxi, einer Stadt mit rund zehn Millionen Einwohnern, wirkt wie ein Flughafen; um ihn zu betreten, werden dieselben Sicherheitsmassnahmen angewandt. Auf den Bahnsteig wird man, ähnlich wie am Flughafen-Gate, erst zwanzig Minuten vor Abfahrt zugelassen, und nur, wenn man einen gültigen Fahrschein besitzt. Dafür ist der Zug auf die Minute pünktlich, was man vom Flugverkehr in China ganz und gar nicht sagen kann.
Chinas Rekorde
Schienenfahrzeughersteller aus aller Welt drängten einst auf den chinesischen Markt: Siemens, Alstom, Bombardier, Mitsubishi, General Electric. Doch die Volksrepublik kaufte nur wenige im Ausland hergestellte Kompositionen. Danach mussten die ausländischen Firmen, wollten sie mit Peking ins Geschäft kommen, Fabrikationsstätten in China bauen. So kamen die Chinesen in den Besitz der Technologien.

Inzwischen hat die Volksrepublik den Spiess umgedreht und verkauft seine Züge in alle Welt. Ausländische Konkurrenten, die einst das Know-how lieferten, beklagen sich über unfaire Methoden der Chinesen, etwa die massive Subventionierung von Exporten.
Doch es ist zu spät: Die China Railway Rolling Stock Corporation CRRC, entstanden erst 2015 durch Fusion, ist zum grössten Schienenfahrzeughersteller der Welt avanciert und exportiert rund um den Globus – unter anderem nach Deutschland und sogar in die USA. Der Umsatz von CRRC betrug 2022 umgerechnet knapp 27 Mrd Euro und überflügelt damit das inzwischen fusionierte Eisenbahngeschäft von Alstom und Bombardier (16.5 Mrd Euro) und Siemens Mobility (9.5 Mrd).
Krieger aus Lehm
Xi’An ist berühmt für das mehr als 2000 Jahre alte Mausoleum des Kaisers Qín Shǐhuángdìs mit der Terrakotta-Armee, einem monumentalen Aufmarsch von Kriegern aus Lehm. Auch die intakten Stadtmauern mit verspielten Turm- und Festungsanlagen sind sehenswert. Chinesische Märkte wie jener im muslimischen Viertel von Xi‘An, in welchen alles angeboten wird, was gegessen werden kann, haben inzwischen eine weltweite, unrühmliche Bedeutung bekommen.

Derweil stellt China laufend neue Rekorde auf. Ein neuer, vollautomatischer Zug zwischen Peking und Zhangjiakou, einem Austragungsort der Olympischen Winterspiele 2022, legt die 190 km lange Reise in 45 Minuten zurück. (Für die vergleichbare Strecke Zürich-Lausanne sitzt man zwei Stunden und zwanzig Minuten in der SBB.)
Unser Zug von Xi’An nach Peking brauchte für die gut 1200 km nur viereinhalb Stunden. Und jener zwischen den Metropolen Peking und Shanghai legt die mehr als 1300 km in gut vier Stunden zurück. Die Reisegeschwindigkeit beträgt mehr als 350 km/h, die Höchstgeschwindigkeit 494 km/h. (Für die etwa gleich lange Strecke Genf-Madrid muss man elf bis zwölf Stunden rechnen und zweimal umsteigen.) Soeben vorgestellte Pläne für eine Magnetschwebebahn werden diese Rekorde noch brechen; sie soll bis 600 km/h schnell sein. Europa wird auch punkto Eisenbahn von China in den Schatten gestellt.