Trips & People
«Ich zähle auf den Goodwill der Leute»
Linda von EuwLaila Grillo ist 27 Jahre jung, fröhlich und liebt das Reisen. Eigentlich nichts Ungewöhnliches – wenn man davon absieht, dass Laila mit fünf Jahren eine Netzhautablösung hatte und seitdem 100 Prozent blind ist. Während Reiseveranstalter auf visuelle Beratungshilfen wie VR-Brillen setzen, verlässt sich Laila unterwegs auf ihre vier anderen Sinne – und auf die Hilfsbereitschaft der Einheimischen.
«Ich bin ein neugieriger Mensch. Schon als Kind verreiste ich mit meinen Eltern mindestens einmal pro Jahr länger. Meistens in die Bretagne oder nach Corbières in Languedocs», sagt Laila. Die Faszination, neue Orte zu entdecken kam vor allem auch mit dem Lesen von Büchern. «Das erste Land, das ich als Erwachsene aus purer Neugierde bereiste, war Wales», erinnert sich die 27-Jährige. Inspiration holt sie sich auch via Sprachausgabe auf Youtube (Reisedokumentationen), TripAdvisor, aus Reiseblogs und aus Erzählungen von Freunden.
Alleine Reisen ist für die junge Frau mit einem Bachelor in Agronomie kein Problem. «Das Flugticket lasse ich mir jeweils via Sprachausgabe vorlesen und bei der Buchung oder auch direkt beim Abholen der Bordkarte kann man Assistance beantragen.» Bei solchen Reisen versucht Laila möglichst direkt zum Zielort zu fliegen, denn: «Die Assistance bringt mich jeweils sofort zum Gate, wo ich dann alleine warten muss. Bei mehrstündigen Zwischenstopps ist das ziemlich langweilig.» Ein Flughafenerlebnis ist Laila besonders geblieben: «Auf dem Weg nach Neuseeland musste ich in Singapur umsteigen. Das mit der Assistance hat zwar geklappt, aber ich musste mich richtig wehren, dass ich nicht einfach in einen Rollstuhl verfrachtet wurde. Oft wird nicht sehen können mit nicht oder zu langsam laufen können gleichgesetzt.»
«Im Taxi hat man als Nicht-Sehende sehr wenig Kontrolle»
Die im Kanton St. Gallen wohnhafte Schweizerin mit italienischen Wurzeln informiert sich vor einer Reise umfassend über die jeweilige Destination. Das ist für Laila vor allem deshalb wichtig, da nicht alle Reiseführer elektronisch zugänglich sind. Landkarten fallen ebenfalls weg und die GPS-Funktion ihres iPhones ist Laila nicht ganz geheuer. «Wenn ich nicht mehr weiterweiss, frage ich mich einfach durch», erklärt Laila. Sie spricht fünf Sprachen: Deutsch, Französisch, Englisch, Italienisch und ein wenig Nepalesisch, weil sie im Rahmen ihrer Bachelor-Arbeit fünf Monate in Nepal verbrachte.
Die Menschen seien eigentlich in jedem Land hilfsbereit, schlechte Erfahrungen habe sie noch nie gemacht. «Ich zähle einfach auf den Goodwill der Leute», sagt Laila. Sie macht zudem deutlich, dass sie sich schon wehren würde, wenn sie das Gefühl hätte, an jemand Unseriöses geraten zu sein. Ausserdem prägt sich Laila immer die Adresse ihres Ziels ein.
Ist sie alleine an einem fremden Ort, benötigt sie einige Zeit, um sich zu orientieren. «Ich kann mir einen Weg zwar relativ schnell merken, aber ich muss ihn zwei-, dreimal gehen und mir gut einprägen, wo ich genau abbiegen muss, und am besten die Strassennamen auswendig lernen.» Denn wenn sie beispielsweise spät abends zum Hotel zurückkehre, seien meist nicht mehr viele Leute unterwegs, die sie fragen könnte. Ist der Weg zu weit, nimmt Laila die U-Bahn oder den Bus. «Nur im Taxi hat man als Nicht-Sehende sehr wenig Kontrolle.»
«In Begleitung von Sehenden bekomme ich mehr mit»
Gerne reist Laila auch mit anderen Menschen. «Bin ich mit Sehenden unterwegs, bekomme ich schon ein wenig mehr mit», findet Laila. Sie lausche gerne Beschreibungen der Sehenswürdigkeiten. Ansonsten ersetzt Laila das Visuelle durch ihr Gehör: «Ich höre gerne der Musik aus den Strassen zu oder dem Verkehrschaos in einer asiatischen Grossstadt. Aber auch wenn Einheimische miteinander sprechen, mag ich es, eine Weile ihren Erzählungen zu lauschen.» Genauso wichtig seien Gerüche und das Schmecken. «Beim Bestellen von Essen frage ich einfach, was in etwa drin ist. Ich bin aber ohnehin sehr probierfreudig.»
Wann immer möglich, setzt Laila auch aufs Tasten: Einmal besuchte sie mit ihren Eltern die Basilika von Aquileia in Italien. Das Bauwerk aus dem 11. Jahrhundert ist vor allem berühmt für seine Mosaikböden. «Eigentlich sollte man diese ja nicht anfassen. Mein Vater führte mich dann einfach zu einem weniger belebten Ort, wo ich kurz die Mosaike berühren konnte», sagt Laila schmunzelnd. Und allgemein versuche sie – gerade bei Kirchen – die Türen mit den Mustern oder Beschlägen zu ertasten.
Ein Land, in das sie nicht reisen würde, gibt es nicht: «Afrika reizt mich im Moment nicht so. Gerne würde ich nochmals zurück nach Nepal und dort ein Trekking machen. Und die alte Seidenstrasse würde ich gerne einmal bereisen. Oder auch einfach mal zu Fuss von Ort zu Ort wandern oder per Pferd durch ein Land reiten.» Die nächste Reise hat die Bachelor-Absolventin noch nicht geplant. Im September geht es für sie erstmals zurück an die Uni, wo sie ihren Master machen möchte.