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«Nur aus Mitleid beschäftigt zu werden, war nie mein Ziel»

Text: Anita Suter, Video: Markus Schlumpf, Travelcontent

Als wir Jean Baldo an einem sonnigen Frühlingstag in Zürich treffen, wissen wir noch nichts von der bevorstehenden wochenlangen Schliessung seines Arbeitsortes. Zwar liegt die Ausnahmesituation bereits in der Luft, denn Herrn Baldo erreichen im Restaurant «Blinde Kuh» immer mehr Reservationsstornierungen. Dass der 45-Jährige am Nachmittag eine ganze Schulklasse (in einem Raum! Ohne Social Distancing!) zum Sinnesparcours im Dunkelrestaurant begrüssen wird, scheint schon wenige Tage später wie ein Traum aus einem vergangenen Zeitalter.

Doch an diesem Tag ist die (Gastro-)Welt noch grösstenteils so, wie wir sie kennen – und Jean Baldo, von Geburt an blind, tut das, was er viermal die Woche tut: Er reist von seinem Wohnort im Thurgau mit Zug und Tram bis Zürich Stadelhofen, von wo er sich unter Zuhilfenahme eines Blindenstocks zielsicher seinen Weg über den Bahnhofsplatz bahnt. Beim Strassenübergang hält er inne. «Das ist das 11i-Tram, jetzt bleiben wir kurz stehen», erklärt er. Und erläutert auch gleich den Grund: «Dann hat es meist sehr viele Leute auf dem Trottoir». Dass es sich um das lange und meist sehr gut besetzte Tram neueren Modells handelt, weiss Jean Baldo aufgrund seines feinen Gehörs. Wir warten den Passantenstrom ab, und gelangen schliesslich per Tram und Fuss zum Restaurant Blinde Kuh im Zürcher Seefeeld.

Im ersten Stock des idyllisch gelegenen Gebäudes hat Jean Baldo sein eigenes Büro. Auf den ersten Blick unterscheidet es sich in Nichts vom Arbeitsplatz einer sehenden Person. Bis der Thurgauer seinen Computer mit einer ungewöhnlichen Tastatur zu bedienen beginnt. Das Gerät übersetzt in die Braille-Schrift, in Windeseile flitzen Jean Baldos Finger darüber. Auch die Vorleserstimme spricht so schnell, dass sich die Wortenden und -Anfänge für das ungeschulte Gehör kaum voneinander unterscheiden lassen.  Es sind zwei wichtige Hilfsmittel, die ihm das Lesen und Beantworten von Emails, sowie den Zugriff aufs Reservationssystem und die Einsatzplanung ermöglichen.

Rundumservice mit Herzblut

Jean Baldo arbeitet seit nunmehr sieben Jahren im Restaurant Blinde Kuh. Zuerst als saisonale Serviceaushilfe,  zeichnet er heute in einem 80-Prozent-Pensum für Reservationen sowie die Arbeitsplanung verantwortlich. Und arbeitet regelmässig selbst im Service mit, was ihm sehr wichtig ist. Denn er mag diesen «Rundumservice», wie er es nennt. «Zuerst nehme ich die Reservation entgegen. Dann begrüsse ich die Gäste, und letztlich bediene ich sie sogar am Tisch», erklärt er.

Gastgeber sein, das liegt Jean Baldo – und es macht ihn sichtbar glücklich. Doch der Weg hierhin war nicht ohne Tücken und, soviel lässt er sich entlocken, erste Wahl war das Gastro- und Hotellerie-Business nicht. «Ich wäre gerne Musiklehrer geworden», gibt der passionierte Chorsänger und Keyboard-Spieler mit etwas Wehmut preis. Oder Pilot. Ein Flugzeug, oder auch nur schon ein Auto zu lenken «das wär schon was», sprudelt es aus ihm heraus. Doch zu all diesen Dingen «reichte es einfach nicht», wie es Baldo ausdrückt. Dass es halt einfach nicht ganz dafür reiche, diesen Satz hat er in seinem Leben schon oft gehört. Doch mit seinem Kampfgeist, gepaart mit einer charmanten verbalen Schlagfertigkeit hat er schon so manche Skeptiker eines Besseren belehrt.

Punkten mit Praxiserfahrung

Jean Baldo besucht zuerst die Blindenschule Sonnenberg in Baar (ZG), dann gleichenorts die Handelsschule mit KV-Abschluss. Eine fundierte Ausbildung im Sack zu haben, so Baldo, schien einleuchtend. Über die Sehbehindertenhilfe Basel kann er bei der Swisscom die Telefonistenschule besuchen. Eine Lehrerin vermittelt ihm das Praktikum im Fünf-Sterne-Hotel Waldhaus, in Sils Maria in den Bündner Bergen. Der aufgestellte Ostschweizer fühlt sich wohl im Job, nimmt skeptischen Mitarbeitern und Gästen bald einmal den Wind aus den Segeln. «Nur aus Mitleid beschäftigt zu werden, war nie mein Ziel», stellt Baldo denn auch eindringlich klar. Das Praktikum verläuft zur allgemeinen Zufriedenheit, und so kommt er Saison für Saison wieder ins Waldhaus, freut sich ob den Begegnungen mit Stammgästen. «Ich habe aber bald mal gemerkt, dass ich mehr als nur den Telefonisten-Job machen wollte», sagt Baldo.

2001 wird er trotz anfänglichen Bedenken an der Hotelfachschule Belvoirpark aufgenommen. «Wir mussten uns zuerst einmal zurechtfinden», und meint nebst sich selbst auch die Lehrkräfte und seine Mitschüler. Das Tempo des Unterrichts ist schnell, er findet aber bei den Kommilitonen Unterstützung – und teilt im Gegenzug sein aus der Praxis gewonnenes Wissen und Know-how mit ihnen.

Diplom und Weiterbildung

Heute trägt Jean Baldo den Titel «Eidgenössisch diplomierter Restaurateur und Hotelier HF» und hat sich zum Ausbildner weiterbilden lassen. Für die Blinde Kuh betätigt er sich auch als Guide für die vor drei Jahren ins Leben gerufenen City Walks – Stadtführungen, bei denen die Teilnehmer  Zürich aus der Perspektive einer sehbehinderten Person kennenlernen.

Mit seinem Schicksal, so Baldo, hadere er nicht. Seine Arbeit macht ihm Spass. In seiner Freizeit wandert Jean Baldo, fährt Ski, musiziert, geht auf Reisen. Er interessiert sich für Tontechnik und ist als Ausbildner verschiedentlich engagiert. Nur manchmal, wenn er von A nach B müsse, und es kompliziert werde – dann, so blitzt es wieder ein klein wenig wehmütig aus der Frohnatur hervor, würde er schon sehr gerne einfach in ein Auto steigen und losfahren.

Das Restaurant Blinde Kuh in Zürich und Basel – wo in kompletter Dunkelheit gespiesen wird – empfängt seit dem 13. Mai wieder Gäste.