Tourismuswelt
Mail aus... Pristina – zwischen Kosovo-Krieg und Kaffee-Kultur
Matthias WipfEines vorweg: Klassisch schön kann man Pristina (Prishtinë) ganz sicher nicht nennen. Aber die Hauptstadt des Kosovo, die jüngste europäische Kapitale, überzeugt mit vielen tollen Restaurants und heimeligen Cafés, mit regem Leben auf dem Hauptboulevard Nënë Tereza (Mutter Teresa) – und vor allem mit äusserst freundlichen, interessierten und zuvorkommenden Menschen. Gute, beglückende Erfahrungen, wo immer wir auch hinkommen.
«Ah, Shaqiri, Xhaka und Behrami», werden wir schon am Flughafen – der nach Adem Jashari, einem ehemaligen Kommandanten der Befreiungsarmee UҪK benannt ist – freudig begrüsst. Die meisten Kosovaren haben zudem einen Onkel, Bruder oder Sohn in Luzern, Basel oder Zürich. «What are you working here?», werden wir auch gefragt – denn dass jemand aus purem Interesse einen Ferienausflug nach Pristina unternehmen könnte, scheint undenkbar. «Really? Why?»
«Klinton»-Statue statt Tourismusbüro
Ja, die touristische Infrastruktur in der rund 200‘000 Einwohner zählenden Stadt steckt noch absolut in den Kinderschuhen, ein Auskunftsbüro gibt es nicht, für weiterführende Homepages fehlt dem Kosovo noch ein nationaler Domainname, so dass man höchstens auf Facebook Präsenz markieren kann – und die Öffnungszeiten von Museen und Restaurants sind, obwohl gross angeschrieben, oftmals eher Glückssache.
Umso mehr wird aber das Entdecker-Gen geweckt. Einen guten Überblick gibt’s vom rund 70 m hohen Glockenturm der unlängst fertig gestellten Mutter-Teresa-Kathedrale. Von dort sieht man das futuristische, durchaus auch umstrittene Gebäude der Nationalbibliothek mit seinen 99 Kuppeln, die benachbarte, halbfertige Christi-Erlöser-Kathedrale sowie die nach den US-Präsidenten benannten Boulevards «Xhorxh Bush» und «Bill Klinton», wobei Letzterem zusätzlich ein Denkmal gewidmet ist. Dies in Anerkennung für die Unterstützung der USA im Freiheitskampf gegen Serbien – ein Konflikt, dessen völkerrechtliche Legitimation stark umstritten war und der in anderer Form bis heute andauert. Nach wie vor ist Kosovo auch längst nicht von allen Staaten als eigenständige Nation anerkannt – insbesondere von solchen nicht, die selbst Abspaltungen von Teilen ihres Staatsgebietes fürchten wie etwa Spanien oder Russland und China.
Tolle Cafés und Restaurants
Als wichtigstes Sightseeing-Objekt gilt in Pristina das sogenannte NEWBORN-Denkmal, das im Februar 2008, bei der Ausrufung der Unabhängigkeit Kosovos, errichtet worden ist und dessen Buchstaben regelmässig neu bemalt und verziert werden. Im Moment bilden zwei umgestürzte Lettern gemeinsam mit einer Inschrift am Boden zudem die symbolischen Worte «No walls». Auch der Gërmia-Park, die grosse ‹grüne Lunge› der Stadt, ist einen Besuch absolut wert – und ist an Wochenenden ein Hauptausflugsziel. Hingegen sind das Kosovo-Museum, das Ethnographische und das Unabhängigkeitsmuseum momentan allesamt geschlossen oder werden sogar längere Zeit renoviert.
Das Leben so richtig spürt man aber in der Fussgängerzone, die wie erwähnt nach Mutter Teresa, der albanischen «Mutter der Armen», benannt ist, und auf der rechtwinklich davon abgehenden Fehmi-Agani-Strasse. Mit hervorragenden, günstigen Kaffeevarianten und Drinks gibt es da die Cafés ‹Half & Half› mit seinem rührigen Geschäftsführer Goran, der ursprünglich Kriminologie studiert hat, sowie ‹Dit‘ e Nat‘›, das auch Sonntagsbrunches anbietet. Dazu das Hipster-Lokal ‹Soma› mit gemütlicher Sofaecke, in der man sich aus einem Bücherregal bedienen und so stundenlang verweilen kann. Zum Nachtessen begeben wir uns – auch das ein Tipp eines Einheimischen – schliesslich ins von aussen eher unscheinbare ‹Liburnia›, das aber – als Alternative zu den omnipräsenten Döner-Buden – mit bester Küche zu sehr vernünftigen Preisen überrascht. En bref: ein kulinarischer Hochgenuss.
Zehn Jahre Unabhängigkeit
Noch immer sind Pristina und Kosovo insgesamt geprägt durch die Schäden des Krieges, durch die weiter andauernde Unsicherheit, durch Kriminalität und Klientelwirtschaft sowie eine rekordhohe Arbeitslosigkeit. Der flüchtige Besucher aus der Schweiz allerdings spürt davon natürlich kaum etwas, sondern konstatiert derweil eher die klischeehaften, omnipräsenten Traineranzüge, die viele Kosovaren auch abends beim Flanieren tragen, die Tatsache, dass noch überall ungeniert geraucht werden darf, und zugleich auch die klapprigen, verrosteten Mercedes-Taxis und die längst verblichenen Leuchtreklamen.
Ein Viertel so gross wie die Schweiz ist der Kosovo, die Bevölkerung ist durchschnittlich sehr jung und praktiziert einen modernen Islam, so dass kaum verschleierte Frauen auf den Strassen zu sehen sind. Im Februar nächsten Jahres feiert der Balkanstaat, der zwischen Albanien, Montenegro, Mazedonien und Intimfeind Serbien liegt, 10 Jahre seiner selbsternannten Unabhängigkeit. Auch dies könnte doch ein Grund sein für einen Besuch an einem unbekannten Ort. «Shine Ya light», sang die gebürtige Kosovarin Rita Ora treffend vor dem NEWBORN-Denkmal.