Tourismuswelt
«Der Hunger nach einem Tapetenwechsel ist gross»
Gregor WaserHerr Wittwer, welche Auswirkungen hatte der weltweite Reiseeinbruch auf das Reiseversicherungsgeschäft des TCS?
Jürg Wittwer: Es gab zunächst mal die akute Krise mit dem Lockdown. In dieser ersten Phase im Frühling 2020 erhielten wir tausende von Annullationsschäden. Das Jahrespensum an Schäden ging innerhalb weniger Wochen ein. Die Fälle in nützlicher Frist abzuarbeiten, war eine logistische Herausforderung. Da wir für solche Risiken rückversichert sind, waren die finanziellen Folgen für uns weniger dramatisch.
Es folgte Ende Sommer eine zweite Phase des verhaltenen Optimismus. Die Pandemie schien unter Kontrolle. Die Schäden gingen zwar massiv zurück – die Leute reisten nicht mehr. Gleichzeitig ging man in jenen Monaten Juli bis September jedoch davon aus, in einigen Wochen oder Monaten wieder reisen zu können. Unser ETI-Schutzbrief Portfolio blieb stabil.
Mit der zweiten Welle ab Mitte Oktober kam für uns eine dritte Phase. Der Zwischenoptimismus fiel zusammen. Die Bevölkerung stellte sich darauf ein, noch lange nicht interkontinental reisen zu können. In dieser dritten Phase brachen auch die Versicherungskäufe erneut ein und es nahmen – entgegen der ersten Phase – nun auch die Kündigungen zu. Dennoch schätzen wir uns als TCS glücklich. Wir haben sehr treue Mitglieder und unser ETI-Portfolio umfasst immer noch über 600'000 Policen.
Wie geht es nun weiter?
Ich hoffe, wie die gesamte Tourismus-Branche, dass wir nun in eine vierte Phase der Normalisierung eintreten. Die Verkäufe haben teilweise schon wieder angezogen. Es macht sich wieder ein verhaltener Optimismus breit. Ich bezweifle zwar, dass man im Sommer und Herbst bereits wieder interkontinental reisen kann. Aber in der Schweiz ist grosser Hunger nach einem Tapetenwechsel auszumachen und wir sehen, dass unser Europa-Produkt bereits wieder zulegt. Dies ist eine gute Nachricht für die Tourismusbranche insgesamt.
«Im jetzigen Umfeld ist ein guter, vertrauensvoller Reiseschutz besonders wichtig.»
Können TCS-Kunden punktuell auch einzelne Reisen versichern?
Wir bieten ausschliesslich unsere Jahresversicherung, den ETI-Schutzbrief an. In jenem Zwischenhoch letzten Sommer, als man davon ausging, in den nächsten zwölf Monaten wieder zu reisen, hatten wir deshalb ein sehr starkes Portfolio. Unsere Mitglieder erneuerten ihre Jahresversicherungen. Mit der zweiten Welle hat sich dann Pessimismus breitgemacht. Immer mehr Mitglieder gingen gemäss unseren Befragungen davon aus, in den nächsten zwölf Monaten nicht zu reisen, was dann eben einen Einfluss auf Kündigungen und Erneuerungen hatte. Ebenso blieb das Neugeschäft aus. Zum Glück spüren wir nun, dass dieser Optimismus wieder zurückkehrt. Unser Reisebarometer zeigt, dass viele Schweizer damit rechnen in den nächsten Wochen zumindest ins nahe Ausland zu reisen.
Wie erheblich ist der Rückgang der Policen?
Dramatisch ist der Einbruch nicht, dieser beläuft sich auf unter fünf Prozent. Der verhältnismässig geringe Einbruch hat damit zu tun, dass TCS-Mitglieder generell sehr reisefreudig sind und die Hoffnung vieler gross ist, in naher Zukunft wieder reisen zu können. Ausserdem ist im jetzigen Umfeld ein guter, vertrauensvoller Reiseschutz besonders wichtig.
Was sagen Sie zur Performance des TCS in der ersten Phase der grossen Schadenswelle?
Unsere Qualitätsstandards bezüglich der zügigen Erledigung der Dossier konnten wir in der akuten Krise nicht einhalten. Wir haben unsere Kunden aber stets informiert, dass der Prozess noch einige Wochen oder in bestimmten Fällen noch länger dauern werde. Insgesamt arbeiteten über 90 Personen an den Schadenfällen. Wir mussten den Personalbestand der Schadensabteilung im sonst ruhigen Monat März verdreifachen. Unter dem Strich ist jedoch relevant, dass wir für den Schaden aufkommen. Der ETI-Schutzbrief gehört zu jenen Versicherungen, die am kulantesten bezahlt haben.
«Ich kann mir zwei extreme Szenarien vorstellen.»
Mit welchem künftigen Reiseaufkommen rechnen Sie?
In den letzten 15 Monaten waren die Aussichten schlecht, da sitzen die Reiseversicherungen im gleichen Boot wie die gesamte Tourismusbranche. Nun ist der Ausblick aber ein wenig rosiger – wenngleich ich mir zwei extreme Szenarien vorstellen kann. Ich beginne mit dem schlechten: die aktuelle Krise könnte durch gefährliche Virenvarianten in die Länge gezogen werden. Diese Gefahr erachte ich nicht als allzu gross, wenn wir - oder die Menschheit - sich diszipliniert an die Hygienemassnahmen halten und wir uns impfen lassen.
Das andere, wahrscheinlichere Szenario sieht so aus, dass man bald schon innerhalb Europa relativ ungehindert reisen kann. Gepaart mit dem aufgestauten Nachholbedarf beim Reisen sowie das volle Bankkonto aufgrund geringerer Ausgaben während der Pandemie, gehe ich davon aus, dass diesen Sommer wieder viele Schweizer unterwegs sein werden. Ungewiss bleibt, wann wieder interkontinentale Reisen in der Breite möglich sein werden. Zwar haben wir hier in der Schweiz oder in Europa den Eindruck, uns dem Ende der Pandemie zu nähern, doch weltweit zeigen die Zahlen eine andere Entwicklung. Es gab noch nie so viele Neuinfektionen wie in den letzten Monaten. So lange es massive unkontrollierte Virenherde wie in Indien oder Brasilien gibt, wird das internationale Reisen nicht in dem von uns gewünschten Ausmass möglich sein.
Welche Auswirkungen hat die Pandemie auf Ihre künftige Produktgestaltung?
Wir werden unsere Allgemeinen Versicherungsbedingungen nicht ändern, weil unsere AVBs sämtliche Deckungen, die es in einer Pandemie braucht, beinhalten. Wir sehen, dass unsere Mitbewerber derzeit mit speziellen Covid-Paketen aufwarten. Das heisst aus unserer Sicht aber nur eines: dass deren Grundprodukt ungenügend ist. Wir müssen unsere Leistung nicht anpassen. Im letzten März sind die Verkäufe des ETI-Schutzbriefs geradezu explodiert, weil wir die umfangreichsten Deckungen bieten. Wir hatten einzig vorübergehend für neue ETI-Kunden Deckungen für Covid ausgeschlossen – nach dem alten Versicherungsprinzip: wenn das Haus mal brennt, ist es zu spät, um eine Versicherung zu kaufen. Der ETI-Schutzbrief hat sämtliche notwendigen Pandemiedeckungen und inzwischen stehen diese Deckungen auch wieder Neukunden zur Verfügung. Wie sie sehen, blicken wir zuversichtlich in die Reise-Zukunft.
«Touristische Reisen mit dem Auto werden nachhaltig populärer.»
Dieses Reisejahr könnte im Zeichen der Selbstfahrer stehen. Wie verfolgen Sie diese Entwicklung?
Gemäss unserem jüngsten Reisebarometer hat jeder Vierte Reisende sein übliches Transportmittel geändert. 51 Prozent dieses Viertels haben das Auto dem Flugzeug vorgezogen und 43 Prozent haben das Auto der Eisenbahn vorgezogen. Das zeigt schon, dass das Auto in der Pandemie an Wichtigkeit gewonnen hat.
Mit welchen Auswirkungen rechnen Sie über die Pandemie hinaus?
Das Auto wird aufgrund der Pandemie noch monatelang auf grössere Beliebtheit zählen. Diese Verhaltensänderung wird noch eine Weile nachhallen. Überlagert wird diese Entwicklung von einem grösseren Trend zur Elektromobilität. Inzwischen hat jedes fünfte neuverkaufte Auto einen Stecker und jedes dritte Auto ist ein Hybrid. Diese Entwicklung verändert auch grundsätzlich die Sicht auf das Auto. Heute ist es möglich, leise und umweltfreundlich Auto zu fahren. Dass die meisten unserer Campingplätze im Sommer bereits ausgebucht sind, verdeutlicht zudem, wie stark derzeit auf das eigene Auto oder den eigenen Camper gesetzt wird. Ich bin jedenfalls davon überzeugt, dass touristische Reisen mit dem Auto nachhaltig populärer werden – Corona hat Veränderungen induziert, das Auto wird ökologischer und zunehmend autonomer. Dank Assistenzsystemen ist die 500-Kilometer-Fahrt auf der Autobahn bis zur Küste heute deutlich angenehmer, sicherer und erholsamer als vor zehn Jahren.