Tourismuswelt

Dieses Krisenjahr war von Videoconferencing geprägt. Den Satz «Nice to e-meet you» mag Jean-Claude Raemy aber nicht mehr hören. Bild: Adobe Stock

Mein 2020 Ja, es war ein schlimmes Jahr – und nein, das ist kein Grund für Hysterie und Aggressionen

Jean-Claude Raemy

Chefredaktor Jean-Claude Raemy schreibt, dass Travelnews im Corona-Jahr letztlich gut über die Runden kam, Videoconferencing langsam reicht und wieso er seine Social-Media-Kontaktliste ausgedünnt hat.

Was begann doch das Jahr optimistisch! Mit rosa Brillen in «2020»-Form, Champagner, Umarmungen und hochtrabenden Plänen. Der Januar? Wie üblich geprägt vom Besuch der grossen Ferienmessen, von Events, Interviews, Sitzungen zu den Ausbauplänen in diesem verheissungsvollen Jahr. Doch bereits am 7. Februar orakelte Travelnews: «Das Coronavirus wird die Reisebranche noch lange beschäftigen.» Leider hatten wir damit vollkommen recht.

Spätestens die ultra-kurzfristige Absage der ITB liess erahnen, dass da was richtig Hässliches auf die globale Reisebranche zukommt. Mitte März folgte der Lockdown und damit erstmals der Gang ins Home Office. Der Rest des Jahres ist schnell erzählt: Ich sass mehrheitlich zuhause, praktisch alle geschäftlichen Termine, mit Ausnahme eines kleinen Zeitfensters im Juni/Juli, fielen ins Wasser. Wir haben uns bemüht, den inhaltlichen Output qualitativ wie quantitativ auf demselben Level wie 2019 zu belassen, was uns – «in my humble opinion» - recht gut gelungen ist. Sonst war aber nichts wie sonst.

Neulich habe ich herausgefunden, dass 2020 für mich das erste Jahr seit 1985 ist, in welchem ich nicht ein einziges Mal mit einem Flugzeug geflogen bin – durch meinen Job war ich immerhin 2-3 Mal in Flugzeugen drin, aber nur zur Besichtigung am Boden. Habe ich das Fliegen schrecklich vermisst? Um ehrlich zu sein: Ein Jahr ohne Fliegen lässt sich aushalten. Gefehlt hat primär die Vorfreude auf ferne Regionen und kulturelle Begegnungen, die mich meistens schon beim Besteigen des Flugzeugs überkommt.

Gewiss, ich war traurig, dass ich gewisse Länder nicht wie geplant bereisen konnte, auf die ich mich sehr gefreut hatte – Kuba oder die Seychellen beispielsweise. Private Ferienpläne, die eine Kreuzfahrt und eine Florida-Reise beinhalteten, fielen ins Wasser bzw. wichen im Sommer einer extrem kurzfristig anberaumten Autoreise nach Sardinien und im Herbst einer kurzen Autotour nach Österreich und Bayern. Im Februar waren wir nirgendwohin verreist, um Ferientage für Sommer und Herbst aufzusparen. Tja. Gereist sind wir ja doch ein bisschen, und auch in der Nähe ist es schön. Und letztlich hat die Gesundheit, von uns wie auch von denen um uns, Vorrang.

Was sind denn nun aber die «Takeaways» dieses aussergewöhnlichen Jahres?

Die Pluspunkte

  • Ich habe viel mehr Zeit mit meiner Familie verbracht. Wunderbar! Ich verstehe immer noch nicht ganz, wieso das für viele Menschen anscheinend eine Horrorvorstellung ist.
  • Ich habe, vor allem während dem Lockdown, meine unmittelbare Umgebung auf Spaziergängen viel besser kennen gelernt. Auch meine Koch- und Gärtnereikünste wurden verfeinert. Ist das bünzlig? Vielleicht. Aber das Loslösen vom Alltags-Hamsterrad anderer Jahre tat mal ganz gut.
  • Das tägliche Pendeln im überfüllten Zug habe ich überhaupt nicht vermisst.
  • Freude herrscht, dass Travelnews am Ende dieses Jahres letztlich gut über die Runden gekommen ist, niemand seinen Job verlor, wir sogar netto eine Person mehr sind als zu Jahresbeginn. Es war mit Kurzarbeit und Home Office für alle nicht einfach, und doch dürfte unsere weiterhin flott wachsende Leserschar hinsichtlich Output und Qualität kaum einen Unterschied zum Vorjahr gemerkt haben. Dafür gebührt dem ganzen Team grosses Lob.
  • Zunächst hatte ich befürchtet, dass wir uns News-seitig etwas stark «im Kreis drehen» und nur noch Schreckensmeldungen vermitteln. Zahlreiche Artikel hatten dann aber mit innovativen Lösungen von Reisebüros zu tun, mit neuen Visionen und Geschäftsideen, mit Neubesinnungen zum ganzen Reisegeschäft. Ich fand das inhaltlich spannend. Obwohl wir (glücklicherweise) immer noch viele kommerzielle Kooperationen hatten und haben, war die News-Vermittlung mehr losgelöst vom so genannten «News peg», also der Vermischung von Kommunikation und kommerziellem Hintergrund, sprich von PR-Inhalten. Oder anders gesagt: Unsere redaktionelle Eigenleistung trat wieder mehr in den Vordergrund – und das ist erfreulich.

Die Minuspunkte

  • Zwei meiner Kinder wohnen bei der Ex-Partnerin in Norwegen. Dank billigen Flügen in der boomenden Flugbranche war das physische Kontakt-Halten zuvor kein Problem. Dieses Jahr konnte ich sie aber nicht ein einziges Mal besuchen. Mir wurde bewusst, wie die Welt plötzlich wieder viel grösser geworden ist aufgrund der vielen Restriktionen und den viel tieferen Flugfrequenzen.
  • Generell war der physische Kontakt zu Personen, die weiter als im Umkreis von 20 Kilometern wohnen, praktisch inexistent. War 2019 die Welt noch ein Dorf, sind wir 2020 buchstäblich im eigenen Dorf gefangen gewesen.
  • Social Media… Meine Kontaktliste, insbesondere auf Facebook, wurde 2020 ausgedünnt. Zu viel Geschrei, zu viel Hysterie, zu viel unüberlegtes Verbreiten von Falschmeldungen, Halbwahrheiten, Hetze und Blabla. Ich will nicht in einer Bubble von Gleichgesinnten gefangen sein. Aber was ist 2020 bloss mit dem seriösen und friedlichen Meinungsaustausch passiert? Wo ist die «Netiquette» geblieben? Warum kann man Meldungen nicht kurz selber Fact-checken, bevor man sie weiterleitet?
  • Dasselbe gilt für Rückmeldungen an Travelnews. Wir freuen uns über Hinweise, Präzisierungen, können auch mit Kritik umgehen. Aber der Ton, mit welchem wir angeschrieben wurden, wenn beispielsweise mal auf der Einreiseliste etwas nicht à jour war, war  teilweise jenseits von gut und böse. Sollte sich die Reisebranche nicht gegenseitig unterstützen statt die Arbeit anderer von der Tastatur aus niederzufräsen? Hey, ihr «armchair warriors», versucht doch mal Eure Energie in was Konstruktives zu kanalisieren!
  • Corona ist «bloss eine Grippe»? Tja, leider hat es in meinem Familienkreis gleich mehrere Personen erwischt, und dies Generationen-übergreifend. Gestorben ist glücklicherweise niemand (obwohl mir persönlich Personen bekannt sind, die an Corona gestorben sind), aber es war für die meisten kein Zuckerschlecken und führte teils zur Hospitalisierung. Soll mir also bloss keiner mit irgendwelchen Verharmlosungen kommen.
  • Videoconferencing. Zugegeben, es ist praktisch, wenn man sich nicht immer irgendwohin begeben muss, gerade für kurze Unterredungen oder unilaterale Informationsvermittlung. Aber eigentlich ist mir Videoconferencing zuwider, oder anders gesagt: Es kann das Networking nicht ersetzen. Ich werde mich mit mehr Videoconferencing abfinden müssen, aber freue mich ungemein, bald mal Personen auch wieder physisch zu treffen und vor allem kennen lernen zu können. «Nice to e-meet you» kann ich nicht mehr hören. Mit einem Bier in der Hand am Anlass ist der Austausch doch deutlich angenehmer als via einen Bildschirm.

Mein Fazit

2020 war physisch deutlich weniger hektisch als die Vorjahre, dafür psychisch anstrengend – wegen dem monetären Damoklesschwert über dem Unternehmen und damit auch über die private Situation. Letztlich dürfen wir dankbar sein, in einem Land zu wohnen, in dem – so unperfekt das manchmal scheinen mag – doch effektive Hilfe von Behördenseite geboten wird und wo wir uns noch nicht mit den wirklich schlimmen Seiten des Lebens befassen müssen. Gürtel enger schnallen, Lebensstandard ein «birebitzeli» runterfahren – war doch im Vergleich zu dem, was andernorts auf diesem Planeten Menschen erdulden mussten, alles halb so schlimm. Ich schaue nun zuversichtlich ins 2021 – das wird nicht «party like it’s 2019» sein, aber wir kriegen das hin, privat und beruflich.


Bisher erschienen in der Serie «Mein 2020»: