Tourismuswelt

Reisen sollte mit positiven Emotionen verbunden sein. Selbst das Coronavirus darf dies nicht ändern. Bild: Ashley Whitlach

Einwurf Es darf keine Reisescham geben

Jean-Claude Raemy

Erinnern Sie sich noch an den letztjährigen Modebegriff «Flugscham»? Aktuell scheint etwas ähnliches zu grassieren, was etwa einer «Reisescham» gleichkommt. Lassen Sie sich davon nicht unterkriegen.

Noch im letzten Jahr widmete Travelnews zahlreiche Artikel dem Phänomen der «Flugscham», diesem vor allem in Schweden populär gemachten Begriff, der den sozialen Druck beschreibt, mit welchem als «Klimasünder» abgestempelte Flugreisende zu kämpfen haben. Die steigende «Flugscham» zeigte da und dort tatsächlich negative Auswirkungen auf die Flugnachfrage, ungeachtet dessen, ob man nun wirklich aus Umweltschutzgründen aufs Flugzeug verzichtete oder eben aufgrund eines wachsenden sozialen Drucks.

Die Flugscham ist im Krisenjahr 2020 ziemlich in den Hintergrund getreten. Inzwischen macht sich aber langsam ein Phänomen breit, welches noch gar nicht in ein klares Schlagwort gefasst ist, welches man aber vielleicht als «Reisescham» bezeichnen könnte.

Das lässt sich in etwa so beschreiben: Jemand hat im Herbst 2020 eine Fernreise gebucht. Nach der Buchung steigt, wie üblich, die Vorfreude auf die Reise. Man hat sich selbstverständlich mit allen Eventualitäten auseinandergesetzt, also Einreisebestimmungen gecheckt, sich über Hygienemassnahmen und –vorschriften vor Ort informiert, die notwendigen Versicherungen abgeschlossen. Dann erzählt man Freunden von seinem Vorhaben oder teilt dieses in Sozialen Medien. Und sogleich geht die heutzutage grassierende Empörungskultur los. «Wie kannst Du nur in diesen Zeiten reisen?» - «Spinnst Du?» - «Reisen ist doch aktuell viel zu gefährlich» - «Aber der Bundesrat sagt doch, wir sollen alle zuhause bleiben!» - «Du bist ein Egoist und gefährdest Dein Umfeld für Deinen Spass.»

Der Reisende wird «beschämt» und verpönt, er fühlt unweigerlich «Reisescham». Manche getrauen sich nicht zu reisen, weil sie Angst vor Infektionen haben – was an sich unbegründet ist, weil die Ansteckungsgefahr im Ausland erwiesenermassen nicht höher ist als bei uns, angesichts der aktuellen Inzidenzzahlen in der Schweiz ohnehin nicht. Es ist inzwischen von Studien belegt, dass die Ansteckungsquelle nur sehr selten im Ausland liegt und die Ansteckungsgefahr ohnehin primär mit dem eigenen Verhalten zu tun hat. Die Eigenverantwortung ist entscheidend, ob zuhause oder beim Reisen – nicht die Reise per se ist ein Risikofaktor. Aber wegen dem sozialen Druck getrauen sich nun eben manche, trotz Vertrauen in das Reisen per se, aktuell nicht zu buchen.

Stop the shaming!

Sorry, aber dieses «Shaming» von Reisenden ist Humbug. Es ist etwa so kleinkariert wie die sofortigen bösen Blicke auf der Strasse oder im Laden, wenn jemand kurz niest oder hüstelt. Als ob man es deswegen verdient, gleich unter Generalverdacht gestellt zu werden, der Gesellschaft absichtlich Schaden zufügen zu wollen.

Ich habe mein Berufsleben weitgehend in der Reisebranche verbracht und bin vielleicht etwas voreingenommen. Trotzdem sehe ich die ganze Sache, wie auch viele Kolleginnen und Kollegen aus der Reisebranche, durchaus differenziert. Ja, Massnahmen zur Eindämmung der Infektionsketten sind nötig. Ja, ich finde Bestimmungen zu Social Distancing, Handdesinfektion und Maskentragen sinnvoll. Wisst ihr was? Zahllose Unternehmen aus der Reisebranche – ob Airline, Hotel, Reederei oder Mietwagenfirma bis hinunter zum kleinen Reisebüro – haben in den letzten Monaten funktionierende Hygienekonzepte erarbeitet und umgesetzt. Warum wird das ausgeblendet?

Dass das nicht für ein vernünftiges und sicheres Reisen genügen soll, ist ein Hohn. Vor allem wenn man schaut, wie sich hierzulande Leute im Einkaufszentrum oder in Restaurants teils benehmen. Man wird das Gefühl nicht los, dass «das Reisen» einmal mehr für viele als Sündenbock herhalten muss, wie das bei der Umweltdiskussion schon der Fall war. Bestimmt, gewisse Leute halten sich nicht an Regeln und re-importieren möglicherweise das Virus – wie auch gewisse Reiseunternehmen ganz klar Umweltsünder sind. Muss man deswegen eine ganze Branche diskreditieren und «das Reisen» zum grössten Gefahrenpotenzial abstempeln? Warum überhaupt diese Suche nach Schuldigen (und als Faustregel sind ja immer die anderen schuld)? Eigenverantwortung fängt bei sich selber an, bevor man sie überall lautstark einzufordern beginnt.

Ferien sind die beste Therapie

Ich will mal einen anderen Approach ins Feld führen. Aktuell beklagen sich ja viele über die psychische Belastung, welche durch die vielen Corona-Massnahmen entsteht. Wissen Sie, was super wirkt gegen dunkle Zeiten und mentale Erschöpfung? Genau, Ferien! Die waren doch mal zur Erholung gedacht… Man kann sich damit eine kleine «Happy Bubble» verschaffen, die uns die Alltagssorgen einen Moment lang vergessen lässt. Ist das schändlich? Im Gegenteil: Man baut Stress ab, gibt dem Relaxen den Vortritt vor der Panik. Das braucht unsere Gesellschaft als Ganzes aktuell mehr denn je!

Also, liebe Leute: Statt Euch in sozialen Medien über das Verhalten anderer zu ereifern, bucht doch einfach mal eine Reise. Ihr werdet sehen, schon die Vorfreude wirkt Wunder. Falls Euch die aktuell etwas komplizierteren Reisebestimmungen verunsichern, fragt einfach bei einem Reiseprofi nach, damit er/sie sich dieser Fragen für Euch annimmt. Und dann verhaltet Euch im Ausland bitte «Corona-sicher», wie ihr es auch hier in der Schweiz tut. Was soll daran verwerflich sein?

Schluss mit dem Shaming. Her mit den Ferien. Die Welt wurde mit den neuen bundesrätlichen Bestimmungen, welche die Quarantäneliste des Bundesamts für Gesundheit massiv schrumpfen liess, gerade wieder ein bisschen zugänglicher. Lasst die Menschen ihre hart verdienten Ferien geniessen. Erinnern Sie Ihre Liebsten daran, sich an Vorschriften zu halten – aber lassen Sie sie um Himmels Willen reisen! Es ist sicherer als man glaubt – und es bietet das, was aktuell die wenigsten noch fühlen können: Entspannung.