Tourismuswelt

Schafft es der Tourismusdampfer, dem Eisberg noch auszuweichen? Bild: AdobeStock

Kommentar «Bitte bleiben Sie an Bord!»

Jean-Claude Raemy

Die Entlassungswelle rollt. Doch es rollt auch eine Welle der freiwilligen Abgänge. Das wird für die Reisebranche in naher Zukunft zum Riesenproblem.

Inzwischen haben alle grossen Schweizer Reiseunternehmen ihre Arbeitnehmerschaft-Reduktionspläne bekannt gegeben. Damit zeichnet sich je länger je mehr ein Bild ab, wie gross der Corona-Schaden, in Arbeitsplätzen gerechnet, für die Schweizer Reisebranche effektiv ist. Allein bei den «Top 6» dürften rund 530 Arbeitsplätze wegfallen; bei den KMU wird eine Zahl in dieser Grössenordnung wohl auch erreicht - und wenn Hilfe aus Bern ausbleibt, könnte diese Zahl noch deutlich wachsen.

Doch inzwischen macht sich ein weiteres Phänomen breit. Wir erfahren, entweder im direkten Gespräch oder beim Durchgehen unserer LinkedIn-Kontakte, von immer mehr Branchen-Mitarbeitenden, welche die Reisebranche freiwillig verlassen, oder dies zumindest dringlich planen. Und zwar in einem Ausmass, in welchem die Arbeitgeber nicht mehr darüber erleichtert sind, keine Entlassung aussprechen zu müssen, sondern sich langsam sorgen darüber machen, ob der Aderlass nicht überproportional ist.

Es ist in der Wirtschaftstheorie längst bekannt, dass Entlassungswellen bei den Nicht-Entlassenen in der Regel nicht ein Sicherheitsgefühl auslösen («ich hab's geschafft»), sondern eher Unsicherheit («bin ich als nächster dran?»). Das Problem mit der aktuellen Situation liegt darin, dass alle Bereiche betroffen sind - also nicht einzelne Unternehmen, welche aufgrund lokaler Gegebenheiten aus dem Markt ausscheiden (z.B. wegen einem Klumpenrisiko in Bezug auf Destinationen) - und damit auch alle Unternehmen und alle Bereiche darin. Wer froh ist, noch einen Job zu haben, macht sich unweigerlich Gedanken dazu, ob es nicht einen «sichereren Hafen» in anderen Branchen gibt. Denn zur Angst um den Job-Verlust gesellt sich der Umstand, dass das Job-Angebot innerhalb der Reisebranche aktuell extrem dünn ist.

Gefragte Reisebüroprofis

Und es ist nicht so, dass Reisebranchen-Mitarbeitende nicht anderswo unterkommen. Deren Skills wie Organisationstalent, Sprachkenntnisse, Flexibilität und dergleichen sind durchaus auch in anderen Branchen gesucht. Gute Leute wandern ab - und während diese früher oft zurückkamen, weil die Reisebranche eben «lässig» war und die Reisemöglichkeiten gewissermassen ein spezieller Benefit waren, so ist dieser Lack inzwischen weg: Reisen waren in den letzten Jahren für jedermann günstig möglich, dafür sind die Löhne in margenstärkeren Branchen bekanntlich besser. Mit der Konsequenz, dass abgesprungene «Gute» eben später nicht mehr in die Reisebranche zurückkehren.

Gepaart mit dem bereits seit Jahren grassierenden Lehrlingsmangel und den doch sinkenden Aussichten auf baldige Erholung zeichnet sich für die Reisebranche inzwischen auch für den heiss ersehnten Moment des «Restart» ein düsteres Bild ab: Wenn es in 1-2 Jahren wieder mit grosser Reisenachfrage losgehen sollte, werden viele Unternehmen personell komplett ausgedünnt dastehen. Und Reiseprofis zaubert man nicht so schnell aus dem Hut.

Was ist zu tun? Man kann hoffen, dass Herzblut-Touristiker trotz der Misere möglichst an Bord bleiben. Oder man muss, quasi antizyklisch und mitten in der Krise, jetzt überlegen, wie man die besten Pferde im Stall halten kann. Wertschätzung muss erst recht in Krisenzeiten ein zentrales Thema sein, auch kommunikativ, und nicht nur die Restrukturierungen und Entlassungen. Will die Reisebranche vom Aufschwung profitieren, der irgendwann mal wieder einsetzen wird, muss sie den kompletten Aderlass dringendst zu verhindern versuchen.