Tourismuswelt

Viele wollen wieder weiter weg reisen. Die Unsicherheit wiegt aber vor. Bild: AdobeStock

Kommentar Reiseverbote können keine langfristige Lösung sein

Jean-Claude Raemy

Stets ändernde Listen quarantänepflichtiger Reiseländer, unterschiedliche Massstäbe, wenig regionale Differenzierung, Endlos-Diskussionen über Test- und Maskenpflichten: Wann rauft sich die Staatengemeinschaft wenigsten europaweit mal dazu auf, international verbindliche Reise-Massstäbe zu entwickeln?

Bald ist es ein halbes Jahr her, seitdem die Coronavirus-Krise unser Leben veränderte. Eine Krise, die anfangs Jahr noch als eine Art chinesisches Phänomen langsam in die Zeitungen kam und spätestens ab März die Welt durchschüttelte. Darauf war man zunächst in keinster Weise vorbereitet, weder von Behörden- noch von Unternehmensseite her. Es folgte zunächst mal weltweit die Igeltaktik der Abschottung, der Lockdowns, der Grenzschliessungen. Bis zu einem gewissen Punkt nachvollziehbar, weil da eine Pandemie am wüten war, über die wenig bekannt war und weil es zur Kernaufgabe von Staaten gehört, die Volksgesundheit zu schützen.

Inzwischen dürfte man aber erwarten, dass es sinnvolle Lösungen gibt, welche eine weitgehende Öffnung von Grenzen und somit eine Rückkehr in einen Alltag - natürlich mit weiterhin notwendigen Einschränkungen - wieder zulassen und trotzdem sicher genug sind, um alle die «Youtube-Wissenschaftler», für die schon kleinste Einschränkungen im Hygiene-Bereich zu viel sind, nicht zum Problem für die Volksgesundheit werden zu lassen.

Ein Einreisebestimmungs-System, welches sich aktuell weltweit immer mehr durchzusetzen schein, ist das «Ampelmodell», wonach Länder in Bezug auf eine relative Coronavirus-Infektionsgefahr sicher (grün) oder nicht sicher (rot) oder zwischendrin (orange) sind. Das Problem: Wo wird der Schwellwert angesetzt? Bei Finnland sind es 8 Neuinfektionen pro 100'000 Einwohner innerhalb von 2 Wochen; bei der Schweiz sind es 60, und dazwischen/darunter/darüber gibt es noch allerhand weitere Schwellenwerte und Regelungen, und wegen unterschiedlicher Test-Handhabungen oder -Interpretationen ist nicht alles sauber vergleichbar. Das hat zur Folge, dass Reisende sich stets über Infektionskurven informieren müssen, um zu wissen, ob die Gefahr besteht, dass das bereiste Land oder auch das eigene Land demnächst auf einer «Roten Liste» landen. Viele Medien helfen gerne dabei, mögliche «nächste quarantänepflichtige Länder» zu thematisieren, vielleicht als wohlgemeinte Warnung, aber jeweils mit dem Effekt, dass die Nachfrage erliegt und zusätzliche Unsicherheit geschaffen wird.

Bei drohender Quarantäne würden 9 von 10 eine Reise absagen

Die stets wechselnden Quarantänepflichten sind faktische Reiseverbote. Eine Yougov-Eurotrack-Studie bei Reisenden in Grossbritannien, Frankreich, Deutschland, Dänemark und Schweden zeigte klar, dass rund drei Viertel aller Reisenden eine Reise absagen würden, wenn Sie bei der Rückkehr in die Heimat in Quarantäne müssten, und gar 9 von 10 würden die Reise absagen, wenn man bei der Ankunft im Zielland zuerst einmal in Quarantäne muss.

Viel wurde inzwischen über PCR-Testmöglichkeiten bei Ankunft im Zielland geschrieben. Das ist zunächst einmal nur auf dem Luftweg wirklich praktikabel, obwohl es auch zunehmend bei Landverkehrs-Grenzen Teststationen gibt. Dann ist die Frage, ob die Tests obligatorisch sind und zudem gratis. In Norwegen wurden kürzlich freiwillige Gratistests am Flughafen Bergen eingeführt – nur macht bislang kaum jemand davon Gebrauch, aus Angst, bei einem positiven Ergebnis gleich in Quarantäne gehen zu müssen. Man kann ja bekanntlich auch asymptomatisch positiv sein. Und da bleibt man offenbar lieber unerkannt so (und kann andere anstecken), als eine Quarantäne zu riskieren.

In Deutschland oder auch Frakreich dagegen wird, immerhin ebenfalls gratis, zwangsläufig getestet. Das funktioniert bislang recht gut und unkompliziert. Aber eben, das Quarantänerisiko bleibt, beim positiven Testfall. Negative PCR-Tests werden inzwischen von immer mehr Ländern verlangt. Das Schweizer Bundesamt für Gesundheit (BAG) setzt sich derweil auf den Standpunkt, dass ein negativer PCR-Test nicht viel nütze, wegen der relativ langen Inkubationszeit einer bestehenden Infektion.

Immerhin würde aber Klarheit herrschen über bestehende Infektionen, was beim Tracing hilft. Stichwort Tracing: Praktisch jedes Land hat eine eigene App entwickelt, welche beim Tracing mithelfen soll. Das Problem ist stets, dass die Kontrollmöglichkeiten beschränkt sind bzw. das Teilen der eigenen Daten auf Freiwilligkeit (Selbstdeklaration) beruht und der Nutzen der breiten Masse nicht immer sofort verständlich ist, weshalb die Nutzerzahlen vergleichsweise tief bleiben.

Und dann gibt es noch das Problem der Infektionsherde: Bloss weil in gewissen Orten/Städten/Regionen höhere Infektionszahlen vorliegen, muss man nicht gleich ein ganzes Land abschotten. Zum einen braucht es praktikable Lösungen für regionale Lockdowns/Reisebeschränkungen (statt generelle Reiseverbote), zum anderen darf man nicht vergessen, dass eine Infektion sehr oft auf eigenem Fehlverhalten (im hygienischen Sinne) beruht und deshalb Selbstverantwortung entscheidend ist.

Tourismusindustrie wird zugrunde gerichtet

Was ist richtig, was ist falsch? Noch selten hat ein Thema die Welt dermassen gespalten wie Corona - man wird das Gefühl nicht los, dass man sich immer mehr an den Rändern der Wahrnehmung - Hysterie vs. Verharmlosung - bewegt und wenig Rationales kommt. Und damit sind Behörden ebenso wie «das Volk» gemeint.

Wo bleiben die besonnenen Stimmen? Klar ist nämlich, dass es auf Dauer nicht so weitergehen kann. Die Welt lässt sich nicht «stoppen», gleichzeitig müssen die Gefahren der Pandemie nicht unterschätzt und die Bevölkerung geschützt werden. Ein Seiltanz, bei welchem man von Behördenseite inzwischen intensive internationale Kooperation erwarten darf.

Wir sind in einer globalisierten Welt, wo die Wirtschaft global eng vernetzt ist, bei der zahllose internationale Familien-, Freundschafts- und Geschäftsbande bestehen und Reisetätigkeit, wenn auch kein «Grundrecht», so doch Teil des Alltags für zig Millionen Menschen geworden ist, einhergehend mit einer dieses Bedürfnis befriedigenden Industrie. Fakt: Die Tourismusindustrie ist der weltweit grösste Arbeitgeber. Und dieser wird aktuell zugrunde gerichtet. Nicht vom Virus per se, sondern vom Chaos in der gesamten «Response» auf die gesundheitliche Bedrohung.

Wir haben uns immer klar dahingehend geäussert, dass die Pandemie ein Gesundheitsrisiko darstellt und entsprechende Massnahmen ergriffen werden müssen. Eine gewisse Abkühlung des zuletzt vielleicht überhitzten Tourismusmotors war eigentlich auch noch vertretbar. Aber es handelt sich längst nicht mehr um eine Abkühlung, sondern um ein nachhaltiges Desaster. Finanzielle Hilfen vom Staat mögen Industrien eine gewisse Zeit lang am Leben erhalten, zementieren aber eigentlich einen Status Quo, den es in dieser Form vorerst nicht mehr geben wird. Viel wichtiger ist es, vernünftige Lösungen zu finden, wie internationale Reisetätigkeit nicht mehr einer Lotterie gleichkommt, sondern anhand verbindlicher Vorgaben und Regeln für alle wieder praktikabel ist. Sprich, es muss auf breiter Basis wieder Vertrauen ins Reisen (ob privat oder geschäftlich) geschaffen werden. Falls dies scheitert, dann wird auf mittelfristige Sicht die Reiseindustrie (im weitesten Sinn) weitgehend lahmgelegt, mit immensen sozialen Folgen weltweit.