Tourismuswelt

Jan Kundert, hier beim Besuch im Büro von Travelnews: «Wir empfehlen allen Reisenden ein Jahres-Reiseversicherungspaket zu kaufen. Es ist von einer Kosten/Nutzen-Betrachtung her einfach die beste Lösung für jeden Haushalt.» Bild: JCR

«Wir können nicht für die ganze Welt einen Freipass geben»

Jean-Claude Raemy

Jan Kundert, seit sechs Monaten CEO der Europäischen Reiseversicherung (ERV), äussert sich im grossen Travelnews-Interview zur Firma, zu den Versicherungsprodukten und natürlich zur aktuellen Coronavirus-Krise, welche Reiseversicherungen wieder in den Vordergrund rückt.

Herr Kundert, Sie sind seit dem 1. September 2019, also seit einem halben Jahr, als CEO der Europäischen Reiseversicherung (ERV) tätig. Wie würden Sie das Unternehmen in seiner jetzigen Form beschreiben?

Nach sechs Monaten und auch Kraft meiner Erfahrung bei früheren Arbeitsstellen in der Versicherungsindustrie kann ich sagen, dass unser Setup für uns, für Kunden und für Partner klar die beste aller möglichen Lösungen darstellt.

Die ERV ist sehr gesund und war bereits in Vergangenheit sehr erfolgreich. Wir agieren so agil wie ein KMU mit der Stärke eines Grossunternehmens im Rücken.

Inwiefern ist die Zugehörigkeit zur Helvetia ein Vorteil?

ERV wurde 1919 gegründet und war seit 1930 Teil von Nationale Suisse. Diese wiederum schloss sich 2015 mit der Helvetia Gruppe zusammen. ERV wurde dabei als eigenständige Aktiengesellschaft weitergeführt. 2019 wurde ERV rechtlich mit Helvetia fusioniert; im Mai erfolgte dafür die Bewilligung der FINMA [Eidg. Finanzmarktaufsicht, Anm.d.Red.], rückwirkend auf Januar 2019. Seither operieren wir als eigenständige Zweigniederlassung von Helvetia. Das hat operativ keinen Einfluss, bedeutet aber, dass sich der regulatorische Aufwand für uns reduziert hat.

Zum Beispiel?

Wir müssen nicht mehr direkt an die FINMA rapportieren, das übernimmt die Helvetia. Mit dem Vorteil, dass wir die freiwerdenden Ressourcen zu Gunsten unserer Kunden einsetzen können. Im Wesentlichen operieren wir weiterhin autonom, finanziell noch stabiler als vorher, können uns aber in gewissen Bereichen und Prozessen auf die professionelle Unterstützung der Muttergesellschaft verlassen, etwa im HR-Bereich, im Facility Management oder bei der IT, wo wir die elektronischen Arbeitsplätze mit Ausnahme unseres Kernsystems von der Helvetia beziehen. Kurz: Wir sind schlanker als zuvor und weiterhin hochprofessionell, sprich, wir können uns noch besser auf unser Kerngeschäft fokussieren.

«Wir verstehen uns als Freizeit-, Reise- und Mobilitätsversicherer.»

Kommen wir zum Produkt. Sie sind primär Reiseversicherer. Was noch?

Reiseversicherung ist unsere DNA und macht heute noch den überwiegenden Teil unseres Geschäfts aus. Einerseits bieten wir Lösungen für Reiseveranstalter, andererseits auch für Reisebüros; wir haben auch Versicherungslösungen im Direktvertrieb sowie Lösungen für Unternehmen.

Was meinen Sie mit Letzterem?

Wir sind der führende Reiseversicherer für Unternehmen, schützen Unternehmen und Ihre Arbeitnehmer vor Risiken im Zusammenhang mit geschäftlichen Reisen. Aktuelles Beispiel: Travelnews hätte mit unserer CTI-Versicherung – je nach gewähltem Deckungsumfang – im Zusammenhang mit der ITB-Absage versichert sein können. Wir verstehen das Reiseversicherungsgeschäft vor allem aber auch als Dienstleistungspaket, welches die Unternehmen im Wahrnehmen ihrer Fürsorgepflicht als Arbeitgeber unterstützt. Wir können dabei unterschiedlichen Kundengruppen massgeschneiderte Lösungen anbieten.

Was ist denn die wichtigste Leistung?

Es ist wichtig zu verstehen, dass wir sowohl im Privatkunden- wie auch im Geschäftskundenbereich nicht nur finanziellen Schutz bei einer Annullation bieten. Ebenso wichtig, wenn nicht gar wichtiger, sind die Assistance-Bausteine in unseren Dienstleistungen. Diese garantieren, dass eine Weiterreise sichergestellt ist und weltweit die medizinische Unterstützung jederzeit professionell und zuverlässig gewährleistet ist.

Weil unsere Lösungen diesen umfassenden Schutz bieten, verstehen wir uns deshalb als «Freizeit-, Reise- und Mobilitätsversicherer».

Was gibt es noch für erweiterte Produkte?

Da geht’s um Ersatz von Sachkosten und Annullationen etwa im Event-Bereich, wir sind beispielsweise Partner von Ticketcorner. Oder auch Versicherungsschutz für Tierhalter – die funktioniert wie eine Krankenversicherung, aber da ein Tier rechtlich als Sache angesehen wird, ist es natürlich keine Krankenversicherung nach KVG, sondern technisch gesehen eben eine Sachversicherung. Wir haben auch eine spezialisierte Heilungskosten-Lösungen, beispielsweise für Gäste aus dem Ausland oder für Studenten aus dem Ausland.

Wie viele Versicherungsprodukte bietet die ERV überhaupt an?

Zurzeit führt die ERV beinahe 3'000 aktive Tarifpositionen. Diese Zahl sagt so nicht viel aus. Technisch gesehen sind es quasi Module, mittels derer wir individualisierte Versicherungslösungen zusammenstellen können. Der Vorteil ist, dass die Time-to-Market extrem niedrig ist. Auf Partner massgeschneiderte Lösungen zu entwickeln und dann eben auch zu operationalisieren ist eine grosse Stärke der ERV.

Haben Sie ein Beispiel für solche individualisierte Lösungen?

Für eine Airline bieten wir eine massgeschneiderte Gepäckversicherungslösung. Wenn das Gepäck eines Flight Attendants beim Reisen beschädigt wird, kann mittels eines hochgeladenen Fotos innert kürzester Frist der Schaden begutachtet und reguliert werden. Für die Mitarbeitenden der Airline ist das natürlich ein super Service. Oder wir haben beispielsweise auch individualisierte Lösungen für Sprachschulen, teilweise verbunden mit Versicherungen für das Nicht-Bestehen von Prüfungen, was Folgekosten hat – wenn man etwa krank war. Im Bereich Reise, Freizeit und Mobilität haben wir insgesamt mehr als 1000 Partnerschaften.

«Wo wichtig, sind wir ein KMU, wo sinnvoll, ein Grossunternehmen.»

Was würden Sie denn als Grundstärke der ERV bezeichnen?

Die ausgesprochene Stärke der ERV ist ihre Flexibilität und ihre Partner- und Kundenorientierung. Wir haben die Fähigkeit, schnell und effizient auf individuelle Kunden- und Partnerbedürfnisse einzugehen. Gleichzeitig sind wir aber grundsolid, mit einer finanziell sehr starken Mutter im Rücken und professionellen Unterstützungsprozessen. Meiner Ansicht nach haben wir die Königslösung: wo wichtig, sind wir ein KMU, wo sinnvoll, ein Grossunternehmen.

Die ERV muss keine Zahlen mehr offenlegen. Laut Geschäftsbericht 2018 vom 11. April 2019 wurden etwa 50 Millionen Franken an Bruttoprämien eingenommen, woraus ein Gewinn von über 6 Millionen Franken resultierte. Was können bzw. dürfen Sie zum aktuellen Geschäftsgang sagen?

Das Nicht-Leben Geschäft ist ein Wachstumstreiber für die Helvetia Gruppe mit einem Zuwachs von 5,6 Prozent gegenüber dem Vorjahr. Helvetia konnte insbesondere im Sachversicherungsgeschäft zulegen, wozu die ERV wiederum einen wichtigen Beitrag geleistet hat.

Reisebuchungen über stationäre Reisebüros gehen aber zurück.

Das stimmt, das ist feststellbar und ein Thema, welches wir sowohl strategisch als auch operativ adressieren müssen. Wobei: Im TO-Geschäft arbeiten wir mit einer Vielzahl Grossveranstaltern zusammen und haben kürzlich auch die DER Touristik Suisse als Partner gewonnen, was sich ab diesem Jahr zusätzlich positiv auf die Zahlen auswirken sollte.

Wie wichtig ist die aktive Reisebürobetreuung?

Versicherung als Dienstleistungsgeschäft ist ein «People's Business», bei welchem Zuverlässigkeit und Vertrauen wichtig sind. Intensive Betreuung des Reisebürokanals ist daher wichtig. Wir wollen aktiv schulen und im Markt präsent sein. Es ist wichtig, dass unsere Kunden verstehen, dass unsere Lösungen umfassende Servicepakete sind und ihnen sorgenfreies, aktives und mobiles Leben ermöglichen. Dies zu vermitteln ist in unserem Vertriebsmodell zentral.

«Intensive Betreuung des Reisebürokanals ist wichtig.»

Kommen wir zum derzeit alles dominierenden Thema «Coronavirus». Die ERV hat schnell reagiert und Kostendeckung nicht nur für die Provinz Hubei in China, wofür es klare Reiserichtlinien vom EDA und vom BAG gibt, geboten, sondern diese freiwillig auf ganz China ausgeweitet. Inzwischen ist das Problem aber global geworden. In diesem Zusammenhang wird immer wieder an die «Kulanz» appelliert. Was sagen Sie als Versicherer dazu?

Wir sowie auch die Veranstalter müssen immer differenzieren zwischen dem Produkt selber, welches die Kalkulationsbasis darstellt und darüber hinaus gehenden freiwilligen Zahlungen. Im Fall von China liegt aufgrund der Reisewarnung des BAG für die Region Hubei Deckung vor. Aufgrund verschiedener Expositionen haben wir entschieden, für Reiseantritte bis Ende März auf freiwilliger Basis die Deckung auf ganz China auszuweiten.

Nun können wir aber nicht für die ganze Welt einen Freipass geben. Ein Produkt hat einen Preis, hinter welchem Leistungen stehen. Die Deckung umfasst bei den meisten Produkten Leistungen im Fall von Epidemien. Ebenso verhält es sich beispielsweise bei Mehrkosten aufgrund eines Quarantäne-Aufenthalts; Hingegen sind die Annullationskosten in der Regel aber nicht gedeckt, da – mit Ausnahme der Region Hubei – bisher keine Epidemie vorliegt. Massgebend ist immer die Reisewarnungen des Bundesamtes für Gesundheit BAG.

Trifft Euch also die Coronavirus-Krise aktuell gar nicht gross, da ja keine Epidemie vorliegt?

Das Coronavirus ist sicher eine Ausnahmesituation. Darauf sind wir vorbereitet.

Inwiefern?

Ich sage es mal so: Die Versicherten sind verunsichert. Es gibt sehr viele Fragen und unsere 24 Stunden Hotline wird von den Kunden intensiv genutzt.

«Die Versicherten sind verunsichert.»

Wenn mein Kreuzfahrtschiff unter Quarantäne gestellt wird, bin ich dann versichert?

In den meisten Deckungen, die wir haben, übernehmen wir die Mehrkosten, die durch die Quarantäne anfallen. Dies sind typischerweise etwa Hotellerie- und Reisekosten. Aus den Assistance-Bausteinen unterstützen wir bei der Organisation der (Ersatz-)Rückreise oder sofern notwendig stellen wir geeignete medizinische Versorgung vor Ort bis hin zu einer medizinischen Repatriierung sicher. Und der Reiserechtsschutz greift bei allfälligen Problemen mit dem Arbeitgeber, weil der Versicherte ja nicht rechtzeitig zur Arbeit zurückgekehrt ist.

Man muss einfach klar festhalten: Reisen ist mit Risiken verbunden.

Ist das Risikobewusstsein zu tief?

In meiner Wahrnehmung ist das Risikobewusstsein bisweilen schon ein bisschen gesunken. Reisen ist auch einfacher geworden: für viele Destinationen gibt es vereinfachte Visa-Prozesse, unterschiedliche Währungen sind kein Problem mehr, da man immer mehr mit Kreditkarten zahlen kann, die Übersetzungs-Apps bringen einen auch in Ländern mit exotischen Sprachen schon recht weit und Informationen sind jederzeit elektronisch und auf dem Smartphone verfügbar. Wenn man aber irgendwo ist und etwas Unvorhergesehenes passiert, ist es häufig dann doch nicht so einfach, wie man meint. Genau dafür sind wir da, um unsere Kunden zu unterstützen, wo sie es benötigen.

Häufig braucht es wenig, um unterwegs auf Probleme zu stossen. Wir empfehlen deshalb allen Reisenden ein Jahres-Reiseversicherungspaket, bei uns Multi-Trip genannt. Es bietet in jeder Situation Zugang zu rascher, professioneller Unterstützung, sei dies bezüglich Mobilität oder auch medizinisch. Auch von einer Kosten/Nutzen-Betrachtung stellt dies die beste Lösung für jeden Haushalt dar.

Sollte dies in der Beratung vermehrt berücksichtigt werden? Werden Versicherungen genügend oft aktiv empfohlen?

Wie gesagt, gehört ein Sorglos-Paket, am besten eine Jahresversicherung, als Basis-Deckung in unserem Verständnis als Grunddeckung in jeden Haushalt. Auch wenn unmittelbar keine Reise ansteht, bieten diese Produkte Deckung für Freizeit und Mobilität im Alltag. Gerade auch Reisebüros, die als Mikro-TO aktiv sind, wissen dies und beraten die Kunden auch entsprechend.

Das Thema «Gesundheit auf Reisen» könnte zudem gerade wegen bzw. dank dem Coronavirus wieder vermehrt als Thema in den Fokus rücken...

Wir verkaufen unsere Dienstleistungen nicht über Angst, sondern über Mehrwert. Ich bin überzeugt, dass die Kunden erkennen, dass die gebotenen Leistungen – auch ausserhalb des Coronavirus – ein aktives und sorgenfreies Leben unterstützen und somit echten Mehrwert bieten.

«In meiner Wahrnehmung ist das Risikobewusstsein bisweilen schon ein bisschen gesunken.»

Abschliessend: Als Stärken der ERV haben sie das besondere Setup mit der Helvetia erwähnt. Gibt es noch mehr?

Nebst der genannten Agilität und Partnerorientierung verfügen wir über ein einzigartiges Partner-Netzwerk mit über 1000 Partnern und langjährige, kompetente und ausserordentlich engagierte Mitarbeitende. Wir haben eine tolle Firmenkultur und sind finanziell sehr stabil. Basierend darauf bieten wir ein breites Sortiment an modernen, guten Versicherungslösungen an.

Wollen oder müssen Sie irgendwo verstärkt eingreifen?

Nun, wir starten auf einer ausgezeichneten Basis. Die ERV ist sehr gesund und war bereits in der Vergangenheit sehr erfolgreich. Um die Herausforderungen der Zukunft zu Opportunitäten zu machen, müssen wir sicherstellen, dass wir die bestehenden Stärken bewahren und gleichzeitig in anderen Dimensionen noch besser werden können. Dazu gehören sicher Themen wie Innovation, ein weiterer Ausbau des Vertriebs, Professionalisieren der Kommunikation, aber auch weitere Investitionen in die Digitalisierung von Prozessen. Um weiter zu wachsen sollten wir uns auch Gedanken darüber machen, ob es Möglichkeiten gibt, Komplexität zu reduzieren. Unser Ziel ist es, die Erwartungen an uns und unsere Dienstleistung stets zu übertreffen.