Tourismuswelt

Erstmals nicht nach Berlin im März - ungewohnt für die Reisebranchen-Mitarbeitenden. Bild: Messe Berlin GmbH

Kommentar ITB-Absage: Der richtige Entscheid

Jean-Claude Raemy

Die weltweit grösste Reisemesse findet erstmals in 54 Jahren nicht statt. Die Reisebranche selber ist gespalten darüber, ob der Entscheid richtig ist oder falsche Signale aussendet. Angesichts der vielen Unwägbarkeiten und dem weiterhin kargen Wissensstand über das Coronavirus ist der Entscheid richtig und nachvollziehbar – kam jedoch spät und mit vielen Misstönen.

Noch vor einer Woche ging alles seinen gewohnten Gang: Die letzten ITB-Termine wurden vereinbart, die Team- wie auch die persönliche Planung für die weltweit grösste Reisemesse gefixt. Bis zu jenem Zeitpunkt hatte es lediglich Absagen von ein paar chinesischen Ausstellern gegeben, kein Grund zur Sorge. Doch jetzt ist die ITB 2020 abgesagt.

Inzwischen sucht das Coronavirus Europa heim. Die Konsumentenstimmung hat sich diese Woche schlagartig verändert. Schnell einmal hat man sich gefragt, ob es sinnvoll sei, zu einer Messe zu reisen, bei welcher zehntausende Personen aus aller Welt auf engstem Raum sich austauschen - und dabei eben auch Tröpfchen austauschen. Panik? Eigentlich nicht. Aber eine im Verlauf der Woche immer hitziger geführte Diskussion, wobei sich ganz klar zwei Lager bildeten. Jene, die eben von «Panikreaktion» sprachen, den klassischen Whataboutism («die Grippe ist noch viel schlimmer») an den Tag legten und meinten, man sende als Reisebranche ein falsches Signal aus. Und jene, welche der Meinung sind, dass man dies den eigenen Mitarbeitenden eigentlich nicht zutrauen könne, auch aus unternehmerischer Sicht: Was, wenn das Virus in die eigene Firma eingeführt wird und ein Teil der Mitarbeitenden ausfällt? Was, wenn man vor Ort unter Quarantäne gestellt wird?

Klar, das Virus kann man irgendwo und nicht ausschliesslich in Berlin einfangen. Aber Hand aufs Herz, ein Anlass wie die ITB darf sicherlich als «Risiko-erhöhend» taxiert werden. Und was das ausgesendete Signal angeht, kann man auch argumentieren, dass gerade die Reisebranche eben eine ernste gesundheitliche Situation, welche aktuell weltweit Menschen nervös macht, nicht einfach nonchalant schönreden und aus ureigenstem Interesse quasi ignorieren sollte. Würde die ITB als einzige Grossveranstaltung weit und breit durchgeführt, würde die Tourismusindustrie möglicherweise als berufsblind eingeschätzt.

Man weiss eigentlich gar nichts

Gehen wir nochmals zeitlich zurück. Am Neujahrstag hatte keiner von uns das Wort Coronavirus jemals gehört, erst kurz zuvor waren ja erste Fälle im entfernten China gemeldet worden. Bereits Mitte Februar scheint die Welt inklusive der Reisebranche aber nur so vor Virenexperten zu strotzen. Der Resonanzkörper der eigenen Social-Media-Bubble verstärkt die eigene Grundhaltung zur gesamten Coronavirus-Krise. Die Medien werden als Panikmacher angeprangert, in gewissen Fällen sicher zu recht, aber dass Facebook & Co. selber auch Medien sind, in denen ein jeder seine unqualifizierten Meinung und irgendwo aufgeschnappte Halbwahrheiten loswerden kann, wird hierbei ausser Acht gelassen.

Fakt ist aber: Vieles ist noch unbekannt, trotz bereits weit über 80'000 bekannten Fällen. Von einem Impfstoff ist man vermutlich noch Monate entfernt. Die Gesundheitsbehörden weisen mit grossen Kampagnen und völlig zu recht darauf hin, dass man mit grundlegenden Hygienemassnahmen (Hände waschen, nicht frei niesen/husten, im Krankheitsfall zuhause bleiben) die weitere Verbreitung des Coronavirus massiv eindämmen kann. Aber eben auch nicht ganz verhindern kann; zunächst wird in unseren Breitengraden mit einem markanten Anstieg an weiteren Fällen gerechnet. Denn obwohl Tröpfchen-Übertragung nachgewiesen ist, ist noch nicht ganz ausgeschlossen, dass es auch Übertragung auf dem Luftweg geben kann. Wie lässt sich erklären, dass sich das Virus auf der Diamond Princess weiter ausbreitete, selbst nachdem alle Passagiere in ihren Kabinen unter Quarantäne gestellt wurden? Weitere Übertragungsmodi (z.B. fäkal, also auch über Abwasserwege) sind nicht ausgeschlossen. Manche Infektionsfälle konnten nicht klar auf eine Quelle zurückgeführt werden.

«Und jetzt?», sagen manche, «das trifft doch eh nur Alte und Schwache», und zählen sich klar nicht zu diesen Gruppen und inszenieren sich als «abgebrüht». Sie vergessen dabei, dass sie aber als potenzielle Träger des Virus genau diese, ihre eigenen Eltern oder Grosseltern vielleicht, infizieren können. Grundlegend ist hierbei wohl die Verantwortung, nicht nur gegenüber sich selber, sondern eben auch gegenüber seinem Unternehmen, seinem Bekanntenkreis und der Gesellschaft im Allgemeinen. Nein, die Welt braucht nicht stillzustehen, aber wenn aktuell alles unternommen werden muss, um ein potenziell fatales Virus einzudämmen, dann ist dies zu befolgen. Wer jetzt mit irgendwelchen Mortalitäts-Prozentzahlen argumentiert, ist nicht nur herzlos, sondern stützt sich auch auf nicht vorhandene Fakten: Die tatsächliche Mortalitätsrate ist nach wie vor unbekannt, weil man die wahre Rate erst wissen kann, nachdem die Epidemie überstanden oder weit fortgeschritten ist. Übrigens: Die Verbreitung des Coronavirus in Singapur oder Iran deutet darauf hin, dass es mit wärmerem Wetter nicht einfach zu Ende sein wird, wie dies meist bei der Grippe der Fall ist.

Schlussfolgernd muss man wohl einfach festhalten, dass das Timing der Coronavirus-Krisenspitze für die ITB eben extrem ungünstig war. Wir werden doch aber alle nächstes Jahr, wenn die Sache ausgestanden ist, wieder an die ITB gehen. Und dieses Jahr eben die Meetings verschieben, anderweitig durchführen, uns behelfen. Man kann das durchstehen. Man weiss, der Mensch vergisst schnell und die befürchtete «Signalwirkung» könnte - hoffen wir es zumindest - von kurzer Dauer sein. Es gibt aktuell bereits einen Buchungsstau, weil momentan aus europäischer Sicht die Coronavirus-Krise auf dem Höhepunkt ist. Der Stau wird sich lösen.

Schade, hat es die ITB verpasst, klarer und vor allem schneller zu kommunizieren. Es wurde darauf gewartet, wer zuerst «zuckt»: Sagt der Aussteller ab, bleibt er auf den Kosten. Sagt die Messeleitung ab, bleibt sie auf den Kosten. Sagen staatliche oder lokale Gesundheitsbehörden ab, bleibt wohl wiederum der Aussteller auf den Kosten sitzen, da es ja dann quasi eine «höhere Gewalt» ist. Die Versicherer wird das Ganze noch eine Weile umtreiben. Die Konsumenten indes werden schon bald wieder in die Ferien wollen.

Eine Kopf-in-den-Sand-Attitüde aus ureigenstem Interessenschutz hätte jedenfalls nicht von Haltung gezeugt, sondern von Zynismus. Ja, jede/r kann nach Berlin reisen, wenn er/sie möchte. Aber es geht hier eben nicht nur um persönliche Entscheide. Nicht nur um Eigenverantwortung, sondern um Sozialverantwortung. Die ITB findet nun eben nicht statt. Wir brauchen auch deswegen nicht in Panik zu geraten.