Tourismuswelt

Auf jeden Trend gibt es einen Gegentrend. Die Möglichkeiten beim Reisen und damit für die Reisebranche sind weiterhin beinahe unerschöpflich - man muss nur genau wissen, was man wie anbieten will und kann. Bild: Pablo Garcia Saldana

Die Reisebranche darf eigentlich optimistisch ins 2020 blicken

Jean-Claude Raemy

Welche Faktoren beeinflussen die Reisewelt von morgen? Wir haben die wesentlichen Treiber zusammengefasst und glauben: Die Reisetätigkeit und die Möglichkeiten für die Reisebranche nehmen weiter zu. Man muss nur seinen Platz darin definieren und finden.

Prof. Dr. Christian Lässer

Das Wort «Trend» wird, gerade im Tourismus, viel zu häufig genutzt und viel zu selten sauber definiert. Mikrotrends werden plötzlich zu Hypes, jeder technische Trend wird gleich zum Lehrstück der Zukunftsentwicklung stilisiert. Im weitesten Sinne bedeutet «Trend» ja nur eine Richtung oder Art, wie sich etwas – in unserem Fall die Tourismusbranche – entwickelt. Generelle Aussagen können eigentlich nicht getätigt werden, denn diese Entwicklung unterscheidet sich regional, zeitlich und auch inhaltlich sehr stark und kann in der modernen Welt auch sehr kurzlebig sein. Wir wollen nachfolgend deshalb nicht wirklich von «Trends» sprechen, sondern lediglich die wesentlichen Faktoren oder «Megatrends» untersuchen, welche die Reise-Nachfrage im Positiven wie im Negativen mitbestimmen.

Daraus wollen wir dann ableiten, wie wir die weitere Entwicklung der Reisebranche sehen, natürlich mit einem Fokus auf die Schweiz. In Ermangelung von grösseren Studien hierzu haben wir uns dabei auch auf ein ausführliches Gespräch mit Prof. Dr. Christian Lässer (Titularprofessor für Tourismus und Dienstleistungsmanagement, Universität St. Gallen) bezogen.


Entwicklung im Flugsektor

Die (Fern-)Reise steht und fällt mit dem Zugang, und dieser ist bei grösseren Distanzen immer noch primär mit dem Flugzeug gewährleistet. Das Wort «Flugscham» geistert zwar herum, hat sich aber bislang kaum als entscheidender Faktor zulasten des Flugverkehrswachstums erwiesen. Gerade in der Schweiz wächst der Flugverkehr im Verhältnis schneller als die Bevölkerung, d.h. Schweizer reisen «freiwillig» immer mehr. Auch die Prognosen beim globalen Flugverkehr weisen auf ein deutliches weiteres Wachstum hin. Das sind eigentlich «good news» für die Reisebranche.

Es gibt allerdings ein paar «Engpass-Faktoren» zu berücksichtigen. Zum einen sind die Flughafenkapazitäten in Europa und insbesondere in der Schweiz beschränkt. Zum anderen könnten auch beim Flugzeugbau sowie in der Pilotenausbildung Engpässe gegenüber der Nachfrage entstehen.

Ebenfalls zum Problem könnte das Oligopol der Lufthansa Group in Zürich bzw. im deutschsprachigen Raum werden. Das geht z.B. in Zürich vor allem zulasten von Low-Cost-Alternativen, derweil sich IAG, Air France-KLM und Lufthansa gegenseitig in ihren Kernmärkten weitgehend in Ruhe lassen. Die Airlines der Lufthansa Group sind beliebt und gut, keine Frage. Aber: Wo wenig Konkurrenz ist, fehlt es oft an Innovation und die Preise sind tendenziell höher.

Immerhin: Die Konsolidierung im europäischen Luftraum wird anhalten, aber von US-Verhältnissen ist man noch weit entfernt. Dies, weil es im europäischen Raum eine viel ausgeglichenere Nachfrage (geografisch betrachtet) als in den USA gibt, also noch genügend Business Cases für kleinere Airlines möglich sind und auch umgesetzt werden.

Nachhaltigkeit

Das ehemalige «Stiefkind-Thema» hat sich 2019 an die Spitze der Trendthemen katapultiert – so sehr, dass mittlerweile schon fast wieder eine Müdigkeit bei diesem PR-mässig «über-ausgeschlachteten» Thema auszumachen ist. Das darf die Unternehmen aber nicht täuschen: Wer sich nicht um Nachhaltigkeit bemüht, geht nach wie vor ein Reputationsrisiko ein. Airlines und Kreuzfahrtgesellschaften bemühen sich bereits stark, einen besseren ökologischen Fussabdruck zu hinterlassen (kommen aber noch nicht so richtig aus dem Fokus der kritischen Öffentlichkeit). Dies schwappt vermehrt auch auf Reiseveranstalter, Hotels und anderweitige Mobilitäts-Anbieter über. Es braucht nicht erst den klaren Nachfragedruck, um nachhaltig zu wirtschaften – es lohnt sich, hier zu den «First Movers» zu gehören.

Es liegt schliesslich auch im ureigensten Interesse des Tourismus, eine gesunde Umwelt zu haben: Einerseits als Sehenswürdigkeit per se, andererseits, weil eine Häufung von Naturkatastrophen und extremen Wetterereignissen Gift für die Nachfrage ist.

Preis

Natürlich ist der Reisepreis nach wie vor der wichtigste Faktor pro bzw. kontra Reisen an sich. Es gilt auch 2020 noch, dass sich peer-to-peer-Angebote mit günstigeren, in der Regel einfach buchbaren Angeboten (etwa Airbnb im Gastronomiesektor, Uber im Mobilitätssektor) weiter ausbreiten. Das ging gar nicht zwingend zu Lasten von bestehenden Marktplayern: Generell haben diese peer-to-peer-Anbieter nämlich eine Marktausweitung geschaffen – so wie es die Low-Coster bereits im Flugbereich getan hatten. Das hat ja die rasant wachsenden Tourismuszahlen der letzten Jahre erst ermöglicht. Und ja, auch die Zahlen aus der kleinen Schweiz sind gewachsen, generell betrachtet – nur haben nicht dieselben Unternehmen wie früher davon profitiert. Die Frage ist also, wie man am weiterhin wachsenden Reisekuchen optimal partizipiert. Und das führt weiterhin einerseits über den Preis, andererseits über die Digitalisierung.

In Sachen Kaufkraft bleiben die Schweizer bis auf weiteres sicherlich überdurchschnittlich dotiert. Die wirtschaftliche Situation hängt allerdings auch mit politischen Faktoren zusammen, welche schon per se den Tourismusströmen zusetzen (etwa die Situation im Mittleren Osten, die jetzt wieder in den Fokus gerät). Negative politische Entwicklungen, also Konflikte (offen oder schwelend wie im Spannungsfeld China/USA) haben meist Auswirkungen auf die Wirtschaft, und die Schweizer Dienstleistungs-Industrie wirkt hierbei recht labil.

Immerhin: Energiepreisschocks haben heute weniger starke Auswirkungen als früher. Sprich, viele Airlines sind jetzt Meister des klugen Hedgings, wodurch temporäre Ölpreisanstiege wie aktuell relativ gut absorbiert werden können. Von «Preisschocks» bei Flugtickets spricht jedenfalls noch niemand.

Digitalisierung

Die frühere Fragmentierung der «Customer Journey» schaffte zahlreiche Businessmodelle entlang dieser Kette. Die Digitalisierung im Tourismus integriert die komplette Customer Journey zunehmend in Einzelplattformen: Inspiration, Information, Buchung, Bezahlung, Nachbetreuung sollen in einem möglich sein. Bei diesem Prozess ist, ebenso wie bei der Reise an sich, die vielzitierte «Convenience» das Stichwort. Nur gibt es heute noch wenige solche Plattformen und der Internet-Dschungel bei einer Web-Buchung törnt viele ab – eine Chance für herkömmliche Reisebüros. Wobei diese selten die ganze Customer Journey begleiten und deshalb genau überlegen sollten, wo deren Platz darin ist bzw. ob sie die Möglichkeiten/Technologien haben, um möglichst den Löwenanteil der Customer Journey zu begleiten.

Im Übrigen muss auch das touristische Produkt kundenseitig gedacht sein. Denn Tourismus ist aufgrund der vielfältigen, auf vielen Kanälen buchbaren und oft günstigen Produkten längst ein Käufermarkt. Deshalb ist es zwingend, die eigene Markenidentität genau zu definieren, die Produkte den Bedürfnissen der definierten Zielgruppen genau anzupassen und da zu verkaufen, wo der Kunde sie sucht und findet. Und da kommt man gar nicht mehr um die Digitalisierung herum.

Nicht zu vergessen: Arbeit und Freizeit vermischt sich dank der digitalisierten Gesellschaft immer mehr.

Overtourism

Overtourism ist vor allem ein mediales Schlagwort. Es ist ein punktuelles Problem – zweifelsfrei gibt es Destinationen, vor allem Städte und/oder extrem populäre Sehenswürdigkeiten (natürlich oder menschgemacht), welche mit der Masse an Besuchern nicht mehr vernünftig klarkommen. Es handelt sich aber um ein lösbares Problem und diverse Städte arbeiten bereits an Lösungen, etwa beschränktem Zugang, Preiserhöhungen und dergleichen. In der Tourismusvermarktung heisst das Zauberwort «Verteilung», d.h. die Touristenströme sollen entweder zu alternativen Destinationen umgeleitet oder zeitlich besser übers Jahr verteilt werden. Eine riesige Herausforderung, allerdings vor allem für die betroffenen Ziele. Der Konsument hat ja die freie Wahl und Alternativen gibt es wie erwähnt genügend.

Markt und Konsum im Umbruch

Es gibt eine Globalisierung von Konsumtrends, welche auch die Reisebranche betreffen. Die bereits angesprochenen Peer-to-Peer-Anbieter oder global aktive Buchungsplattformen sind extrem mächtig und omnipräsent. Auf lokaler Ebene kann man immerhin auf Vertrauen als zentrales Gut für Konsumentscheidungen setzen. Das lokale Reisebüro kennt den Kunden persönlich, ist für diesen da, kann im Problemfall angegangen werden. «Sicherheit» ist gewissermassen nur lokal möglich, zumindest im juristischen Sinn.

Das ändert jedoch nichts daran, dass moderne Geschäftsmodelle weitgehend digital und internetbasiert sein müssen, weil ohne computerunterstützte Geräte heute kaum mehr etwas gemacht (gebucht) wird. Entscheidend ist hier die «Aufmerksamkeit» - wie kann ich in der Flut an Angeboten und Möglichkeiten und der Dauerberieselung im elektronischen Raum für mein Produkt Aufmerksamkeit schaffen? Auch hier kann man auf lokaler Ebene noch viel bewegen. Schwieriger wird es im Massengeschäft.

Neue Möglichkeiten bietet sicherlich auch die gesellschaftliche Entwicklung. Es gibt unterschiedlichste Lebensstile und Familienbilder, die Lebenserwartung steigt weiterhin, traditionelle Restriktionen und Normen brechen auf, die Geschlechterrollen wandeln sich (auch wenn sich Ewiggestrige immer noch dagegen aufzulehnen versuchen), wodurch die Nachfrage immer fragmentierter und individueller wird. Dadurch werden auch die Produkte und Dienstleistungen immer individualisierter, was sowohl Online und Offline eine grosse Herausforderung ist. Das bedingt eine Fokussierung auf gewisse «Nachfrage-Nischen» oder eine globale Präsenz, welche durch Top-Technologie und riesige Marketingbudgets untermauert sein muss.

Fazit

Ein erkennbarer «Trend» ist sicherlich die höhere Anzahl und geringere Dauer von Reisen als in der Vergangenheit. Wesentliche Treiber sind die «Accessibility» (hohes Flug- bzw. Transportangebot und günstige Preise) sowie der weiterhin hohe Status, den Reisetätigkeit in der sozialen Wahrnehmung geniesst (Stichwort Instagram). Grundsätzlich kann man sicherlich festhalten, dass die Reisetätigkeit - vorausgesetzt, dass es nicht zu globalisierten Konflikten oder einem massiven Zusammenbruch der Weltwirtschaft kommt - bis auf Weiteres generell weiter zunehmen wird.

Es ist hierbei wichtig festzuhalten, dass Trends in der Regel auch Gegentrends erzeugen. Wir haben bereits oben erwähnt, dass etwa die stärkere Mediatisierung von Umweltthemen oder Frauenanliegen zu Gegenreaktionen führt (Anti-Greta, Männer als Feminismus-Opfer etc.). So kann man auch bei Tourismus-Megatrends die entgegengesetzten Trends bereits erkennen. Beispiel: Die globalisierte Welt erlaubt uns, jede Ecke relativ einfach aufsuchen zu können. Gleichzeitig dazu hat sich ein Trend zum verstärkten Fokus auf die Heimat entwickelt. Also auch wieder vermehrt Ferien in der Schweiz. Oder: Die Individualisierung der Gesellschaft führt auch zu wieder erstarktem Bedürfnis nach Erlebnissen in Gruppen, nach «Wir», das beginnt bei Co-Working und endet bei Co-Travelling bzw. Gruppenreisen. Und der Fokus auf Nachhaltigkeit hat bei gewissen Menschen auch beinahe zwanghaften Hedonismus ausgelöst, ein «Jetzt-erst-recht-die-ganze-Bucket-List-noch-abreisen». Beispiel: Kurz vor Schliessung des Uluru in Australien wollten diesen noch Tausende besteigen, womit gewisse Anbieter viel Geld machten.

Was wir damit sagen wollen: Es gibt zahllose Möglichkeiten und Bedürfnisse, die im Reisebereich gestillt sein wollen. Erfolgreich werden jene sein, welche diese Bedürfnisse erkennen und passgenau bedienen. Auf, 2020 kann erfolgreich werden!