Tourismuswelt

Wer hingeht, weiss mehr: Man muss nicht mit der Regierung eines Landes einverstanden sein, um selbiges zu bereisen. Wichtig ist, einen offenen und kritischen Geist zu behalten - gerade deshalb ist Reisen wichtig. Bild: Artem Beliaikin

Kommentar Das Reisen ist wichtiger denn je

Jean-Claude Raemy

Vieles läuft im modernen Tourismus falsch. Doch Reisen per se darf niemals ein «guilt trip» sein. Verbote, Einschränkungen und ins-Gewissen-Reden sind der falsche Ansatz. Es braucht eine Rückbesinnung darauf, was man vom Reisen eigentlich will und was man damit für sich und andere erreichen kann.

Reisen ist wunderschön: Dabei entdeckt man fremde Kulturen, Länder mit anderem Klima und anderer Fauna und Flora, man erlebt Gefühle von Glück und Freiheit, die man im heimischen Alltag nicht hat. Man holt sich Inspiration, öffnet seinen Geist, testet und überwindet Grenzen, erweitert seinen Horizont und ja, für viele hat es auch mit Wertschätzung und Selbstdarstellung zu tun. Kurz: Reisen macht glücklich.

Allerdings hat diese «heile Welt des Reisens» auch Kehrseiten. Kehrseiten, welche nicht neu sind, aber in diesem Jahr den Reisenden weltweit um die Ohren geflogen sind. Die Rede ist natürlich einerseits von den klimatischen Auswirkungen, welche das Reisen verursacht. Mobilität hat immer auch einen ökologischen Preis. Wenn die Welt zugrunde geht, weil man sie bereist, sollte man dann zuhause bleiben? Mitnichten! Vielleicht bewusster reisen: Etwas weniger oft fliegen, gewisse Strecken mit dem Zug fahren, vielleicht mal ÖV statt Mietwagen probieren. Die Branche selber arbeitet an Lösungen, mit denen das Reisen etwas nachhaltiger gestaltet werden kann, zum Beispiel  synthetische Kraftstoffe, neue Zugverbindungen, Hyperloops, aber auch eine Konzentration auf lokale Produkte, weniger Plastikverwendung und mehr. Es tut sich was. Natürlich sind die Probleme weiterhin immens, aber – wohl aufgrund des nunmehr hohen Drucks in Sachen Nachhaltigkeit – bewegt sich die Branche in die richtige Richtung. Und die Konsumenten? Es sind moralisch schwierige Zeiten für Reisende. Diese können sich dazu Gedanken machen, ökologische Gesichtspunkte bei einer Reise berücksichtigen oder auch nicht. Nicht alle wollen vom Reisen dasselbe. Schön, wenn sich zumindest einige bzw. immer mehr Reisende Gedanken dazu machen, wie oft und wozu überhaupt sie reisen.

Es gibt aber noch einen zweiten Aspekt, bei welchem Reisenden immer wieder ins Gewissen geredet wird und wo sich auch die Frage stellt, was man mit sich selber vereinbaren kann oder nicht. Hier ist die Rede von Politik und Recht. Wie sieht es mit der Situation im Zielland aus? Darf oder muss man als Tourist die Augen vor lokalen Missständen verschliessen? Es scheint eine seltsame Doppelmoral zu existieren: Fühlen sich Reisende am eigenen Leben bedroht, meiden sie ein Land. Kaum geht irgendwo eine Bombe hoch, welche auch Touristen trifft, sinken die Besucherzahlen. Aber über die Menschenrechtslage vor Ort, das freie Äusserungsrecht, die Situation von Frauen, Flüchtlingen, Medien, Homosexuellen oder ehtnischen Minderheiten in einem Land – also quasi die «Sicherheit der anderen» - machen sich anscheinend nur wenige Reisenden Gedanken. Es gilt offenbar: Keine Regierung ist perfekt, also muss auch kein Land touristisch boykottiert werden.

Ein Reisender kann kein Richter sein. Oder doch?

Ist das so in Ordnung? Auf diese Frage gibt es keine klare Antwort. Es gibt, aus abendländisch-aufgeklärter Sicht, zahlreiche inakzeptable Zustände, bei uns zuhause, im Westen, weltweit. China zensuriert seine eigene Bevölkerung, die Türkei führt gerade einen Angriffskrieg in Syrien durch, Myanmar hat die Bevölkerung der Rohingya verfolgt, auf den Malediven lauert ein radikaler Islam, die US-Regierung unterwandert demokratische Prozesse – die Liste ist endlos. Und dennoch floriert das touristische Geschäft in all den genannten Ländern. Touristen schaffen es, innenpolitische Situationen auszublenden - «solange der Preis stimmt, das Leistungsangebot OK ist und sie sich nicht persönlich bedroht fühlen», sagen die Zyniker. «Weil man sonst eigentlich nirgendwo mehr hin reisen dürfte», sagen die Realisten.

Es ist ohnehin keine Lösung, einfach nicht zu reisen. Das trägt nicht zum Verständnis der Situation bei. Es hilft der einheimischen Bevölkerung nicht. Eine Situation zu verstehen erfordert, sich dieser auszusetzen oder zumindest Erlebnisse anderer zu teilen und selber zu erleben. Ausserdem: Wer zuhause auf dem Balkon sitzt, sollte eigentlich kein Recht haben, in sozialen Medien grossspurige Meinungen über die Zustände in anderen Ländern zu äussern und irgendwelche Empfehlungen abzugeben. Das wird in den Zielländern oftmals als «koloniales Gehabe» empfunden. All die Moralapostel, welche der ganzen Welt vom sicheren Schreibtisch aus ins Gewissen reden wollen, tragen genauso wenig zur Lösung irgendwelcher Probleme bei wie jene, die völlig frei von Sorgen um Ökologie oder Kultur genau dieselben an fremden Orten zerstören.

Reisende müssen nicht Richter sein. Und doch haben es Reisende selbst in der Hand, etwas zu verbessern. Eigentlich sollte man sogar mehr denn je reisen. Aber nicht einfach wie die Lemmings zur nächsten billigen Attraktion mit der importierten Touristenkultur. Und ja, man sollte sich die Gewissensfrage in Bezug auf lokale Politik stellen. Vor allem aber kann man durchaus mal unbekanntere Gebiete als Ferienziel auswählen, den Kontakt zu den Einheimischen suchen, reisen um zu verstehen und nicht nur wegzukommen und damit zu prahlen. Das kann auch in benachbarten Ländern wie Italien oder Spanien erfolgen. Dort gibt es unheimlich viel zu entdecken, zu hören, zu sehen, was nicht schon auf 10’000 Insta-Posts zu sehen ist. Es fördert das Verständnis, eröffnet Kleinunternehmern neue Chancen, reduziert den Overtourism. Man kann zudem im Gespräch von eigenen Überzeugungen und Erlebnissen reden. Persönlicher Austausch statt anonymer Wortkrieg: Das geht nur mit Reisen.

Man darf also auch Länder mit fragwürdigen Regierungen bereisen. Man darf und sollte vor allem auch Orte bereisen, die nicht schon von globalen Konzernen kulturell gleichgeschaltet sind, keine klassischen Touristenfallen mehr mit seinem Besuch am Leben erhalten. Man muss die «Bubble» des ewiggleichen, sauberen, sicheren und eigentlich todlangweiligen Tourismus ebenso vermeiden wie der Isolationismus und Nationalismus, der Reisen als «Export des Zuhause an einen warmen Ort» versteht. Reisen ist leben, es ist auch «das Leben anderer erleben», es trägt zu einer offeneren Gesellschaft bei. In offenen Gesellschaften darf frei gereist werden. Genau das macht glücklich. Also haben sie kein schlechtes Gewissen beim Reisen. Aber nehmen sie trotzdem Rücksicht auf die lokale Kultur und Umwelt.