Tourismuswelt

Intimste Momente müssen heute mit der Weltöffentlichkeit live geteilt werden, gerade auf Reisen. Wie wär's mal, den Moment einfach für sich zu geniessen? Bild: Austin Loveing

Einwurf Vorsatz für 2019: Erleben statt einfangen

Jean-Claude Raemy

Warum die permanente Suche nach dem besten Instagram-Bild das heutige Reisen vergiftet.

Wer früher Rat brauchte hinsichtlich seiner persönlichen Imagepflege, hörte oft den Satz «Tue Gutes und sprich darüber». Heute scheint die Devise «Reise herum und berichte darüber» zu lauten. Die Selbstinszenierung ist nicht mehr nur ein Produkt des Reisens, sondern oftmals gar zum Reisezweck per se geworden, und spielt eine Rolle bei der Reiseplanung und gar bei der Wahl des Reiseziels.

Wer es sich leisten kann, reist irgendwohin, wo noch niemand aus dem Bekanntenkreis jemals gewesen ist – je exotischer, desto besser. Und von dort muss man dann natürlich etwas posten – wenn es nicht auf Social Media gepostet wurde, war man ja gar nicht dort, oder? Was dazu führt, dass viele Reisende selbst in der Antarktis mehr damit beschäftigt sind, ein WLAN zu suchen und Selfies zu posten, als die einzigartige Ruhe und Natur zu geniessen.

Umgekehrt gibt es auch den Trend, dass man unbedingt da gewesen sein muss, wo alle schon gewesen sind: Das «Me too» im touristischen Sinn. Das Selfie vor Eiffelturm/Freiheitsstatue/Taj Mahal/Zuckerhut/You-name-it ist ein absolutes Muss, und deshalb auch ein Grund, dass Orte mit solchen «ikonischen» Sehenswürdigkeiten unter Overtourismus leiden.

Seltsamerweise wird man Letzteres aber auf den wenigsten Bildern bemerken. Schliesslich sind die Instagram-Bilder ja sauber in Szene gesetzte Werke, und die vielen Filter erlauben Effekte, welche zugegebenermassen hübsch aussehen, aber der visuellen Realität der Orte meist nicht entsprechen. Das gepostete Bild ist eine Illusion, es fängt einen offenbar wunderbaren Moment ein, den es in der Realität aber so kaum gegeben hat. Man täuscht damit seine Follower, letztlich aber auch sich selbst.

Dokumentierungszwang verhindert echten Genuss

Dadurch entsteht auch ein gewisses Misstrauen. Ist das, was ich sehe, noch echt? Und ist das Glücksgefühl nicht inszeniert? Zigtausende Instagram-Posts haben dasselbe Sujet, z.B. der «verträumte Blick ins Endlose, am Strand bei Sonnenuntergang». Der Instagram-Einheitsbrei wurde auch schon in diesem Video eindrücklich festgehalten. Wo bitte bleibt die Spontanität? Die besten Erlebnisse sind doch jene, die ungeplant sind. Ein «Erlebnis» hat in der Regel auch etwas «Unerwartetes» an sich.

Wir kennen sie alle, diese transformativen Momente: Jene Momente, in denen wir pures Glück fühlen, Momente, an die wir uns später bei bestimmten Worten oder Liedern erinnern, welche uns die Augen geöffnet haben und die wir immer wieder einfangen möchten. Viele solcher Momente passieren auf Reisen. Und Bilder sind ein Weg, schöne Momente einzufangen. Aber nicht der einzige! Man hat ja auch noch ein Gedächtnis. Und es ist doch eigentlich egal, ob uns andere glauben, was wir auf Reisen erlebt haben: Das Erlebnis hat man für sich allein, den Moment sollte man für sich geniessen. Denn der Zwang, schöne Momente in Bildern festzuhalten, kann den Moment selber ruinieren.

Mal ganz davon abgesehen, dass man sich dabei auch umbringen kann. Auf Instagram findet man unter dem Hashtag «Selfie» inzwischen bereits 327 Millionen Einträge – nicht wenige davon sind Selfies, welche auf Reisen aufgenommen wurden. Parallel dazu steigt die Anzahl jener, welche beim Aufnehmen von Selfies tödlich verunglücken, mit jedem Jahr. Auf Wikipedia gibt es dafür gar eine eigene Liste. Und es gibt die berühmte Story von den 56 Touristen, welche beim Ausbruch des Vulkans Ontake in Japan 2014 ums Leben kamen – die Hälfte von ihnen hatte zum Todeszeitpunkt das Handy in der Hand, weil sie versuchten, die Eruption zu fotografieren. Die Obsession, Momente bildlich einzufangen, übersteigt offenbar bei vielen sogar den Selbsterhaltungstrieb. Ist unser Leben weniger Wert als ein Like? Oder, etwas abgeschwächt: Ist der innige Genuss eines Moments weniger Wert als ein Like?

Schau für Dich!

Klar, Soziale Medien sind hier, um zu bleiben und das Dokumentieren und Teilen der eigenen (Reise-)Tätigkeit ist nicht per se schlecht. Man kann dadurch inspiriert werden, man macht andere neidisch, alles menschlich. Zentral ist dabei aber, wie immer, Mass zu bewahren. Man sollte sein Leben und insbesondere das Reisen eben noch «erleben», und nicht «hashtaggen». Oder anders formuliert: Sei doch ein bisschen egoistischer auf Deiner Reise, geniesse sie für Dich selbst, statt Dich zum Sklaven des Social-Media-Sharing zu machen.

Das wäre doch mal ein guter Vorsatz fürs kommende Jahr. Gern geschehen.

Hat sie den Wasserfall gesehen? Hat sie mit den isländischen Elfen gesprochen, das Wetter gespürt, die Natur bewundert? Auf jeden Fall hat sie ein Selfie im Fluss gemacht... Bild: John Salvino