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Durch die Skelettschlucht auf den Tafelberg

Rund 100 Wanderrouten führen auf das 1087 Meter hohe Wahrzeichen von Kapstadt. Wer den Gipfel zu Fuss erobert, erlebt eine einsame Berglandschaft und faszinierende Vegetation.

Morgensport im Botanischen Garten von Kirstenbosch: Zehn Männer und Frauen in weissen Jacken und Mützen heben die Füsse wie Störche in die Luft und setzen sie wieder vorsichtig auf dem Boden ab – die Köche und Küchenhelfer des Parkrestaurants bereiten sich mit kollektiver Gymnastik auf den Ansturm des Tages vor. Neben so viel sportlicher Eleganz wirken die Wanderer ziemlich behäbig mit ihren dicken Wanderstiefeln und Rucksäcken. Vor ihnen liegt ein rund dreistündiger Aufstieg auf das Wahrzeichen Kapstadts, den 1087 Meter hohen Tafelberg.

Wer auf den Gipfel laufen möchte, der hat die Qual der Wahl, sagt Bergführerin Margaret Curran: steil und kurz oder lang und ausdauernd, still und einsam oder im Pulk mit Tagestouristen, über die Vorderseite oder die Rückseite des Berges. Mehr als 100 verschiedene Routen soll es geben. Die meisten Bergführer haben maximal ein halbes Dutzend im Angebot. "Viele Wanderer lassen sich von der Kürze der Platteklip-Route täuschen", sagt Curran, die es 1985 von Irland nach Südafrika verschlug. Diese Strecke nahe der Seilbahn ist nur drei Kilometer lang, aber steil und anstrengend.

Curran führt heute über die angeblich schönste Route durch die Skeleton Gorge.  Jenseits des Botanischen Gartens geht es steil durch schattigen Urwald aufwärts, hin und wieder überbrücken Leitern einen unwegsamen Abschnitt. Ein Bach rieselt in die Tiefe – der Rest eines Wasserfalls, der jeden Winter durch die Skeleton Gorge tost. "Eine schaurige Geschichte kann ich zum Namen Skelettschlucht leider nicht erzählen", sagt Curran. Kein Friedhof der Buschleute, kein verunglückter Tourist. "Das Skelett einer Kuh musste wohl für die Namensgebung herhalten", lacht die Bergführerin.

Auf der Suche nach blühenden Proteen

Dafür erzählt sie von ihrer Arbeit: Schon immer wanderbegeistert, nutzte die ausgebildete Therapeutin 1997 eine mehrmonatige Betriebspause der Tafelberg-Seilbahn und bot Touren auf den Gipfel an. Mit grossen Erfolg: Heute wird sie mindestens viermal pro Woche gebucht. "Natürlich habe ich dabei nicht mehr den Wow-Effekt wie beim ersten Mal", sagt sie. "Aber je nach Begleitung sind die Wanderungen meist sehr unterhaltsam."

Eine Pionierin war Curran nicht: Als erste Frau bezwang Lady Anne Barnard 1797 den Gipfel, die Frau des damaligen Kolonialsekretärs – rund 300 Jahre nach der Erstbesteigung durch den portugiesischen Admiral Antonio de Saldanha. Die Lady und ihre Begleiter waren damals mit Dienern unterwegs, die Schachteln mit Wein und kaltem Fleisch trugen, wie sie in ihrem Tagebuch vermerkte. Auf halber Strecke tranken sie Portwein gemischt mit frischem Quellwasser. Um später lauthals "God save the King" anzustimmen.

Plötzlich surrt etwas zwischen den Wipfeln: Ein Kaphonigfresser auf der Suche nach blühenden Proteen kündigt den nahenden Fynbos an, die typischen Pflanzen der Kaphalbinsel: eine Mischung aus struppigen Büschen, flachen Nadelhölzern, winzigen Blüten und Früchten. Als eines von nur sechs Pflanzenreichen weltweit steht diese Vegetation als Weltnaturerbe unter Schutz.

Bald darauf verlässt die Gruppe den schattigen Wald, Nebel hängt über den blühenden Zuckerbüschen, wie die Proteen auch genannt werden. Riesige Felsbrocken liegen wie Trümmer in der Landschaft verstreut. Einer ragt wie ein gewaltiger Pferdekopf in den Himmel. Dann reißt der Nebel plötzlich auf - das berühmte "Tischtuch" aus Wolken, das oft fluffig über dem Tafelberg hängt, öffnet sich. Schweigend stehen die Wanderer an einem tiefen Abgrund, unter sich die glitzernde Fläche des Atlantiks.

Menschen wuseln, Flipflops klappern

Zielstrebig steuert Margaret Curran auf eine Steinpyramide zu, einzige Landmarke auf dem felsigen Plateau, das sich bis zum Horizont erstreckt. Unscheinbarer könnte der Gipfel des weltberühmten Tafelberges nicht aussehen. Der Steinhaufen wurde 1865 von Sir Thomas Maclear aufgeschichtet – nicht, um den Gipfel zu markieren, sondern weil der "Astronom ihrer Majestät" hier Berechnungen über die Erdkrümmung anstellen wollte.

Nach einer weiteren halben Stunde über ebene Pfade und Bohlenstege erreicht die Gruppe die Bergstation der Seilbahn. Menschen wuseln, Flipflops klappern, Sprachfetzen aus Japanisch, Spanisch, Französisch, Deutsch schwirren durch die Luft. Touristen aus aller Welt geniessen die Aussicht auf die südafrikanische Metropole Kapstadt zu ihren Füssen. Bald darauf gleiten die Wanderer in der Gondel zurück in die Tiefe. Schweigend, in Gedanken immer noch in der einsamen Bergwelt.

(OGE/SRT)