Rail & Road

Kurz vor Abfahrt am 12. Dezember 2021: Erster Nachtzug von Zürich nach Amsterdam. Bild: Internaut

«Im Nachtzug braucht es eine Bar, der Rest ist Nonsense»

Andreas Güntert

Mit dem Fahrplanwechsel kommt der neue Nachtzug nach Amsterdam. Viele jubeln. Benedikt Weibel nicht. Der Ex-Chef der SBB erklärt das Nachtzug-Problem.

Herr Weibel, mit dem Fahrplanwechsel 2021/2022 kommt ein neuer Nachtzug von Zürich und Basel nach Amsterdam ins Bahnprogramm. Ist das eine gute Nachricht?

Benedikt Weibel: Grundsätzlich ist ein neues Angebot, das bezüglich Klima besser abschneidet als eine Flugpassage, positiv zu werten. Ob es eine wirklich gute Nachricht ist? Kommt drauf an.

Worauf?

Wenn sich das neue Angebot wirtschaftlich selber trägt, ist es eine gute Nachricht. Sonst nicht.

Der aktuelle SBB-Chef Vincent Ducrot sagte im Sommer 2021 zur «Sonntagszeitung», dass Nachtzüge nie profitabel sein werden. Ergo sind sie nicht selbsttragend.

In diesem Falle also: Schlechte Nachricht.

Sie sind Bähnler mit Leib und Seele. Trotzdem kritisieren Sie Nachtzüge in ihrer heutigen Ausprägung. Das ist ja angesichts der grünen Welle fast schon Frevel.

Dazu zwei Dinge: Ich bin zwar ein Bähnler, aber ich war nie ein Bahn-Ideologe. Will heissen: Jedes Verkehrsmittel hat seine Rolle und Chance. Und: Es gibt wohl nur wenige Leute in Lande, die öfters Nachtzug gefahren sind als ich. Von der Schweiz nach Paris oder nach Brüssel: x-mal nachts gereist. Von Moskau nach Peking per Bahn: Ebenfalls nachts im Zug absolviert. Oder der Talgo nach Barcelona: War das herrlicher Nachtzug!

In seinem aktuellen Buch «Wir Mobilitätsmenschen» zeichnet Benedikt Weibel die Mobilmachung der Menschheit auf, von der Erfindung des Rades über Eisenbahn, Auto und Flugzeug bis hin zu E-Bike und E-Scooter. Bild: Michael Stahl

Trotz aller Liebe kritisieren Sie Nachtzüge. Mit welchen Argumenten?

Zum einen stehen die heutigen Nachzüge tagsüber leer herum, was stark auf die Wirtschaftlichkeit drückt. Beim «Zarengold» war das noch anders: Diese Züge wurden nach der Nachtreise auf Tagesbetrieb umgerüstet, was problemlos möglich war.

Und zum zweiten?

Mit dem schweren und teuren Rollmaterial werden zu wenig Menschen befördert. Die Bahn ist immer dann stark, wenn sie viele Menschen aufnehmen kann. Ein Zug kann über 1000 Menschen befördern, bei einem klassischen Nachtzug sind es nur 300.

Trotzdem liebt die Klimajugend den Nachtzug. Und Klimaerwachsene ebenso.

Der Nachtzug ist heute leider blosse Symbolpolitik. Und ein Beispiel für eine Symbolpolitik, die nicht hinterfragt wird.

Sie waren federführend dabei, als Deutsche Bahn, ÖBB und SBB Ende der 80er Jahr Nachtzug-Doppelstöcker unter der Marke City Night Line lancierten. Warum hat das damals nicht geklappt?

Einfache Antwort: Aufgrund des gleichzeitig anziehenden Booms der Billigflieger war das Thema City Night Line quasi über Nacht tot. Leider.

Die Rolle der ÖBB ist interessant: Sie verabschiedete sich damals als erste vom City Nightline – und surfte dann aber mit dem Nightjet als erste wieder mit auf der neuen Nachtzug-Welle. Weshalb?

Das hat wohl verschiedene Gründe. Einer davon könnte sein, dass die ÖBB immer recht gut mit Staatsgeldern eingedeckt war und ist.

Passt der Nachtzug überhaupt in die Corona-Zeit?

Natürlich ist das aktuell wegen der gewünschten Privatsphäre keine einfache Sache. Aber wir sollten die Zukunft nicht nur aufgrund der heutigen Situation planen.

«Aufgrund der Klimadiskussion sind die Passagiere bereit, einen gewissen Aufpreis gegenüber der Variante Flug zu bezahlen.»

Haben Nachtzüge Ihrer Meinung nach eine Zukunft?

Gute Chancen haben sie auf jeden Fall. Immerhin bietet diese Form von Mobilität einige Vorteile: Man kommt von Innenstadt zu Innenstadt. Es ist breit akzeptiert, eine obligatorische Reservationsgebühr zu bezahlen. Was es erlaubt, per smartem Revenue Management die Preise zu steuern. Und aufgrund der Klimadiskussion sind die Passagiere bereit, einen gewissen Aufpreis gegenüber der Variante Flug zu bezahlen. Es geht einfach darum, kreativer mit dem Thema Nachtzug umzugehen.

In welcher Art?

Bezüglich Konzeption von Nachtzügen bin ich nicht der Profi. Aber es scheint mir klar, dass man, um auf eine genügende Menge an Passagieren zu kommen, Doppelstöcker einsetzen sollte. Und natürlich muss man sich beim Nachtzug endlich vom Bett verabschieden.

Spielt das Bett nicht die tragende Rolle?

Besser wären Sitze, die sich nachts in eine flache Position bringen lassen – und danach leicht wieder für den Tagesbetrieb hergerichtet werden können. Wenn Sie mit einer Airline in der Business-Class nach Südafrika fliegen, haben Sie auch kein Bett – sondern einen guten Sitz, der sowohl flach als auch ein aufrechter Form funktioniert.

Im Internaut-Interview skizzierte Railtour-Chef Werner Schindler einen Nachtzug, der gastronomisch top, einfacher buchbar und mit Entertainment-Elementen bestückt ist. Macht das Sinn für Sie?

Eine Bar braucht es. Der Rest ist Nonsense. Showküchen und Bühnen haben in Nachtzügen ebensowenig Platz wie grosszügige Abteile mit Duschen. Jeder verfügbare Quadratmeter muss den Passagieren zur Verfügung stehen, nur so lässt sich Eigenwirtschaftlichkeit erreichen.

Nachtzug Premiere Zürich-Amsterdam: Erste Abfahrt am 12. Dezember, 21.59 Uhr. Bild: Internaut

Warum ist es so zentral, dass Nachtzüge rentabel sind? Gesellschaft und Politik könnten ja auch zum Schluss kommen, dass man diese Art der nachhaltigen Mobilität fördern und subventionieren darf.

Dann müsste man sich die Frage stellen, ob bei einem alternativen Einsatz dieser Subventionen nicht mehr CO2-Ausstoss vermieden werden könnte.

Die Preise sind natürlich auch ein Thema. Ist die Bahn zu teuer oder die Fliegerei zu billig?

Fliegen ist heute extrem günstig. Ich bin fest davon überzeugt, dass sich das in Zukunft ändern wird. Hoffentlich aber nicht so, dass das Fliegen zum Schluss nur noch für die Elite erschwinglich ist.

Warum sind eigentlich internationale Bahntickets bis heute nicht so einfach zu vergleichen und zu buchen wie wir es bei Hotels und Flügen auf Expedia, Booking.com oder Trivago kennen?

Weil es die Bahnen in all den Jahren nicht hinbekommen haben. Ich vermute, dass es in Zukunft zwar eine Lösung geben wird, diese aber nicht von den Bahnen selber stammen wird.

Von wem sonst?

Es gibt schon Lösungen von privaten Playern. Bei Google Maps fehlt nur noch die Ticket-Funktion. Als Bahnchef würde ich mir etwas Sorgen machen, dass ein solches System wie Booking.com happige Provisionen von 20 Prozent und mehr absaugt.

Mit welchem Verkehrsmittel würden Sie für ein Weekend nach Amsterdam reisen?

Muss es unbedingt Amsterdam sein? Oder geht auch Wien?

Okay, dann halt Wien.

Ein Weg mit dem Nachtzug. Aber nicht beide Strecken.

Warum nicht beide Wege?

Erstens weil mir der Nachtzug – Stichwort kleine Nasszelle und fehlende Dusche – zu wenig hygienisch ist. Und zweitens, weil ich gerne tagsüber Zug fahre. Am liebsten im Speisewagen, bei einem herrlichen Kaiserschmarrn.