Rail & Road

Der frühere SBB-Chef Benedikt Weibel hält fest: «Wenn es die EU mit dem Kriterium der Eigenwirtschaftlichkeit ernst meint, müssen sich die Bahnen vom klassischen Nachtzug verabschieden.» Bild: (c) Michael Stahl

«Nachtzugverkehr nach klassischem Muster ist nicht vernünftig»

Jean-Claude Raemy

Der frühere SBB-Chef Benedikt Weibel gehörte zu den Initianten der CityNightLine. In seinem Anfang September erscheinenden neusten Buch übt er aber Kritik am aktuellen Nachtzug-Trend und verlangt neue Modelle, damit Nachtzüge und die Bahn allgemein den hohen Erwartungen hinsichtlich zukünftiger Mobilitätsbedürfnisse gerecht werden können.

Bereits vor der Covid-Pandemie war die «Renaissance der Nachtzüge» in der Tourismusbranche ein Thema. Die Pandemie-bedingte Reduktion des globalen Flugverkehrs, der verstärkte Fokus auf ökologische Aspekte des Reisens und die neu entdeckte Lust an näher gelegenen Reisezielen hat diese Renaissance seitdem beflügelt. Die Nightjets der ÖBB begannen bereits im Sommer 2020 wieder zu rollen, und seitdem planen SBB und ÖBB im Rahmen einer gemeinsamen Absichtserklärung fleissig an weiteren Nachtzugverbindungen mit Zeithorizont 2024. Und dabei sind die Schweizer und Österreicher natürlich nicht allein; Nachtzug-Initiativen gibt es inzwischen europaweit. Zur Erinnerung: Die SBB hatten anno 2009 die Nachtzüge mangels Rentabilität aufgegeben, doch just vor einem Jahr die Wiederaufnahme dieses Geschäftsbereichs angekündigt.

Doch nun kommt auch Kritik am Nachtzug-Hype auf. Und dies nicht von irgendwem, sondern von einem der profundesten Kenner des Bahnwesens: Benedikt Weibel. Der Solothurner war 1993-2006 Vorsitzender der Geschäftsleitung der SBB, zwischenzeitlich auch im Verwaltungsrat der französischen Staatsbahn SNCF und wurde 2013 in Brüssel mit dem «European Railway Award 2013» ausgezeichnet. Weibel war nach seinem Abgang bei den SBB bis 2016 Honorarprofessor für Praktisches Management an der Universität Bern und als Publizist tätig; in seinem neusten Buch, welches am 6. September 2021 unter dem Titel «Wir Mobilitätsmenschen - Wege und Irrwege zu einem nachhaltigen Verkehr» erscheint, sind kritische Worte zur aktuellen Entwicklung bei Nachtzügen zu finden.

Weibel zeichnet in seinem Buch nach, wie die SBB gemeinsam mit DB und ÖBB Ende der 80er-Jahre unter der Marke «CityNightLine» ein Nachtzugkonzept mit neuen, doppelstöckigen Wagen lancierten; nach anfänglichen Erfolgen waren die Businesspläne aber aufgrund der aufkommenden Low-Cost-Airlines mit deren schnellen Point-to-Point-Verbindungen zwischen europäischen Städten bald Makulatur. Jetzt, wo das auch von der Klimajugend angeheizte Comeback der Nachtzüge ansteht, mahnt Weibel aber zur Vorsicht - gerade auch, weil die Finanzierung dieses Comebacks noch viele offene Fragen beinhaltet (Stichwort Staats-Subventionen!). In seinem Buch schreibt Weibel: «Nachtzugverbindungen sind auch ein Bestandteil des von der deutschen EU-Präsidentschaft lancierten Zukunftskonzepts, allerdings unter der Voraussetzung, dass sie eigenwirtschaftlich betrieben werden. Die Gesellschaft für Rationale Verkehrspolitik setzt dazu ein Fragezeichen: ‹Die wirtschaftliche Herausforderung zusätzlicher Nachtzüge ist nicht zu unterschätzen: Schlafplätze können nur einmal pro Fahrt verkauft werden, während im TEE 2.0 ein Sitzplatz für Teilrelationen mehrfach vermarktet werden kann und der Platzbedarf pro Fahrgast ist im Nachtzug deutlich grösser.»

Der Nachtzug, im Verkehrswesen inzwischen so etwas wie ein Symbol der Klimabewegung, muss sich der ungemütlichen Frage stellen, ob sein Angebot «wesensgerecht» ist, also eigenwirtschaftlich betrieben werden kann. Gegenüber Travelnews erklärt Weibel: «Ich war Initiator der CityNightLine, einem völlig neu designten Nachtzug, und selber jahrelang begeisterter Nachtzugbenutzer, vorwiegend nach Paris, aber auch nach Brüssel. Doch aus ökonomischer und auch ökologischer Sicht ist der Nachtzugverkehr nach klassischem Muster heute nicht vernünftig.» Weibel hält fest, dass ein über 400 Tonnen schwerer Zug knapp 300 Reisende befördert, davon 120 auf Liegeplätzen - und während dem Tag steht dieser Zug unbenutzt auf dem Abstellgleis. Ausserdem sei die Nachfrage stark saisonal, was die Effizienz nochmals reduziert. «Klassische Nachtzüge sind offensichtlich nicht eigenwirtschaftlich, deshalb verlangen die Bahnen Subventionen», so Weibel, «doch der Subventionsgeber muss sich die Frage stellen, ob mit diesem Geld anderweitig nicht mehr CO2 eingespart werden könnte.» Er stellt den Vergleich mit Bussen an: Ein Reisebus wiegt etwa 20 Tonnen und befördert gegen 80 Menschen. Das Verhältnis spricht für sich.

Es braucht neue Modelle

Wie lautet denn die Lösung? Für Weibel liegt diese bereits vor: Ein rentabler Nachtzugbetrieb sei möglich, «wenn dafür neues, innovatives Rollmaterial entwickelt wird, das für den Tagesverkehr umgerüstet werden kann und sowohl für den Nacht- wie für den Tagesverkehr über eine maximale Anzahl Liege- und Sitzplätze verfügt - entsprechende Rollmaterial-Konzepte gibt es.» In seinem Buch lautet denn das beinharte Fazit: «Wenn es die EU mit dem Kriterium der Eigenwirtschaftlichkeit ernst meint, müssen sich die Bahnen vom klassischen Nachtzug verabschieden.»

Generell plädiert Weibel in seinem Buch - in welchem es beileibe nicht nur um Bahnthemen geht, sondern auch um praktisch alle anderen Arten der Mobilität im 21. Jahrhundert - um etwas Nüchternheit, also darum, zukünftige Mobilität nicht aufgrund von Ideologien, sondern aufgrund von wohl überlegten, länderübergreifenden ökonomischen und ökologischen Strategien zu steuern: «Bei allem Optimismus darf man einige Systemeigenschaften des Personenverkehrs auf der Schiene nicht ausser Acht lassen.»

Im Gefolge der Klimakrise werde weithin erwartet, dass die Bahn in der Lage sei, grosse Teile des innereuropäischen Luftverkehrs zu übernehmen - gerade auch im Inland-Verkehr, wie dies zum Beispiel Frankreich oder auch Deutschland propagieren. Dazu schreibt Weibel: «Das wird jedoch durch den europäischen Flickenteppich von Zugssteuerungs- und Stromsystemen erschwert. Interoperabilität ist seit gut 30 Jahren ein Schlüsselbegriff der zuständigen Gremien der EU, ein substanzieller Fortschritt konnte bislang nicht verzeichnet werden. Trotz grosser Investitionen wurden die in einem Weissbuch 2011 gesetzten Ziele für den internationalen Verkehr nicht im Ansatz erreicht. In der Tat hat der internationale Bahnverkehr ein hohes Steigerungspotenzial.»

Diese Feststellung lässt sich auch auf andere Verkehrsträger anwenden. Dazu mehr im spannenden neuen Buch von Benedikt Weibel, welches die Steuerung der Mobilitätsströme im 21. Jahrhundert thematisiert - auch und gerade für die Tourismusbranche eine zentrale Fragestellung.