Rail & Road

TCS-Vizedirektor Jörg Beckmann engagiert sich seit über 20 Jahren in Forschung, Wirtschaft und Politik auf lokaler, nationaler und europäischer Ebene für eine nachhaltigere Mobilität. Bild: TCS

«Es geht auch ohne den Kurztrip nach Thailand oder Barcelona»

Gregor Waser

TCS-Mobilitätsexperte Jörg Beckmann erklärt im Interview die Auswirkungen von Covid-19 auf die Mobilitätswelt – und er erläutert Zukunftsszenarien eines nachhaltigeren Reiseverkehrs.

Herr Beckmann, 2020 ist von Corona geprägt: Wie ändert sich die Mobilitätswelt im Zeichen der Pandemie?

Dr. Jörg Beckmann: Kolossal. Abgesehen von den grossen gesundheitspolitischen Auswirkungen und den menschlichen Tragödien ist dieses Jahr aus der Sicht der Mobilitätsforschung eine spannende Zeit. Wir müssen nicht nur kurzfristig, sondern auch langfristig unsere Prognosen hinterfragen. Wir sehen zwar keinen grossen gesellschaftlichen Systemwandel, aber es werden sich schon einige Dinge im Verkehrssektor ändern. Mobilität und Verkehr ist eine abgeleitete Aktivität von bestimmten Rahmenbedingungen – etwa dem Umstand, dass ich jeden Morgen um 8 Uhr zur Arbeit erscheinen muss und gleichzeitig alle Schulen öffnen. In dem Bereich sehen wir nun, dass sich technische Möglichkeiten, die wir vorher schon hatten, offensichtlich etablieren – Stichwort Homeoffice. Da ändert sich jetzt die Akzeptanz vieler Arbeitgeber. Wir stellen nun Auswirkungen im Pendler-Geschäftsreiseverkehr fest und den daran angeschlossenen Aktivitäten wie Einkäufe. Und dies ist nicht eine Momentaufnahme, die nur für Corona gilt. Neben der systemischen, technischen Seite gibt es auch eine verhaltensspezifische Seite. Wir lernen neue Routinen, beim Homeoffice, beim Online-Shopping. Da fallen bestimmte Wege weg. Auch in der Freizeitmobilität zeichnen sich Veränderungen ab,  ich denke da an den E-Bike-Boom.

Im Tourismus zeichnen sich grosse Probleme ab, wenn auch gewisse Teilbereiche wie Campingplätze sich nun die Hände reiben. Da stellt sich die Frage, ob Covid-19 nicht so etwas wie ein Vergrösserungsglas ist, das gewisse Nachhaltigkeitsdefizite in bestimmten Branchen stärker beleuchtet. Der Fokus richtet sich nun sicherlich auf neue, nachhaltige Technologien, mit denen wir die Volkswirtschaft, die Gesellschaft und den Verkehrssektor wieder aufbauen.

Wie verfolgen Sie die aktuelle Auslastung des Öffentlichen Verkehrs?

Der ÖV ist noch lange nicht wieder dort, wo er vorher war, etwa bei einer Auslastung von 50 Prozent. Maskenpflicht im ÖV hilft natürlich, da steigen die Leute eher wieder ein, das schafft Sicherheit. Kommt dazu, dass der ÖV in den letzten Monaten nicht unbedingt der Hotspot war, wo sich die Leute angesteckt haben. Es ist aber nicht so, dass alle, die den ÖV nicht mehr benutzen, auf die Strasse umgestiegen sind. Eine Mehrbelastung stellen wir auf den Strassen bisher kaum fest. Viele machen die Fahrt einfach nicht mehr.

«Die autoorientierte Stadt will heute niemand mehr haben.»

Welche Dynamiken lösen Transformationserscheinungen wie Digitalisierung, Elektrifizierung und die Share Economy in der Verkehrswelt aus?

Ich würde da eher von Trends sprechen. Um die Effizienzrevolution im Verkehr zu beschreiben, rede ich gerne von den 6 Es. Die ersten 3 Es sind Entkarbonisierung, Entprivatisierung und Entmotorisierung. Wir werden immer energieeffizienter dank Elektrifizierung. Da geht’s nicht nur einfach um einen neuen Motor oder Antrieb, sondern um eine ganz neue Art, das Auto zu bauen und zu nutzen. Das Auto wird mit der Elektrifizierung viel stärker zu einem digitalen Endgerät. Bei der Entprivatisierung sprechen wir vom Trend des Sharing, sei es Carsharing, Bikesharing oder Trottisharing. Das ist nicht nur eine technische, sondern auch eine soziale Innovation, die sehr facettenreich ist und ebenfalls mit Digitalisierung zu tun hat. Nicht nur die Nutzung ändert sich, sondern auch die Geschäftsmodelle. Dann geht’s weiter um die Entmotorisierung des Stadtverkehrs, um die Renaissance des Velos, das ist ebenfalls ein grosses Transformationsfeld, sicherlich auch ein bisschen gesundheitspolitisch getrieben, auch durch die Veränderung der Städte, die immer lebbarer werden. Die autoorientierte Stadt will heute niemand mehr haben. Dass durch die immer lebbareren Städte die aktive Mobilität an Bedeutung gewinnt, ist ein weiterer wichtiger Transformationspfad. Diese drei Es sind im Kontext des grünen Wachstums anzusiedeln.

Dann sehe ich aber noch drei andere Es, die eher Suffizienz-getrieben sind, im Bemühen nicht nur den Ressourceninput und die Schadensintensität der genutzten Ressourcen zu verringern, sondern schlichtweg weniger Güter, Raum und Verkehr zu konsumieren. Hier geht’s also um die Frage, wie wir mit weniger Verkehr genauso oder noch sinnvoller wirtschaften können und genauso erfüllt leben können. Auch hier zeigt das Corona-Vergrösserungsglas: wir leben aktuell tatsächlich mit weniger Verkehr als vor der Krise. Nicht alle von uns würden sagen, das ist schlecht für den Menschen, geschweige denn schlecht für die Natur. Eventuell ist es schlecht für gewisse Teile einer rein wachstumsorientierten Ökonomie, für die Art und Weise wie wir bisher gewirtschaftet haben. Hier sehe ich die Stichworte Entmaterialisierung, Entschleunigung und globale Entflechtung.

Bei der Entmaterialisierung geht’s darum, mit deutlich weniger Material weiterhin mobil zu sein. Schon ein Elektroauto etwa hat nur einen Sechstel der Bauteile eines Verbrenners und ist deutlich weniger energie- und wartungsintensiv. Suffizienter wird das E-Mobil, wenn es deutlich kleiner daher kommt als beispielsweise ein Tesla Model X, geteilt und besser ausgelastet wird und seine Batterie im zweiten Leben als stationärer Energiespeicher den heimischen Solarstrom verwahrt. Beim Thema globale Entflechtung lernen wir gerade, wir können nicht verreisen, aber stellen fest, es geht auch ohne den Kurztrip nach Thailand oder Barcelona. TUI, airbnb und easyjet dürfte dies nicht freuen, dafür den einen oder anderen Ort, der heute overtouristed ist. Und Entschleunigung kann durchaus auch ein Geschäftsmodell werden, wenn wir sehen, wie sich zunehmend mehr Menschen nach Ruhe, Gelassenheit und mehr Achtsamkeit in ihrem Leben sehen. Wir haben in der Tat ein zeitökonomisches Problem in der Konsumgesellschaft, in der wir heute leben können. Wir können so viele Dinge kaufen, erwerben, nutzen, dass wir kaum noch Zeit haben das einzelne Produkt wirklich zu begreifen und tatsächlich zu nutzen. Das führt zur Tatsache, dass wir, weniger schnell und mit weniger viel Konsumgütern, für die wir kaum noch Zeit haben, leben sollten. Dies hat natürlich auch verkehrsmässige Auswirkungen, denn wer langsamer und leichter lebt, lebt in der Regel auch lokaler.

Was hat es mit dem carvelo2go auf sich? Wie ist diese Idee entstanden und wohin steuern Sie damit?

Die Idee ist bei mir im Berner Quartier 2013 entstanden mit dem Projekt Caki-Bike, Cargo-Kids-Bike. Das war ein Forschungsprojekt in Bern, bei dem wir jungen Familien ein elektrifiziertes Lastenvelo zur Verfügung gestellt haben, um die Kinder damit zu transportieren oder einzukaufen. Wir haben den Familien dabei auch nahegelegt, ein solches Velo mit weiteren Familien zu teilen. Die sagten uns dann hinterher, super, aber wir würden niemals eines kaufen bei einem Preis von 6500 oder 7000 Franken. Toll wäre ein solches Fahrzeug im Quartier zu haben wie Mobility-Carsharing.

Wir konnten damals aber keine öffentlichen Ladestationen bauen oder finanzieren. Wir begannen daher bei uns im Quartier die Bäckerei und den Buchladen zu fragen, ob sie nicht Host sein wollen und auf die Bikes aufpassen wollen. Die Leute konnten dann ganz einfach über einen Google-Kalender die Bikes mieten und in der Bäckerei den Schlüssel abholen. Später kam die Buchung- und Bezahl-App hinzu. Dieses sowohl analoge wie digitale Mobilitätsangebot ist sehr quartiersbezogen. Der Host ist für uns Teil des Betriebsablaufs, der ermöglicht den Zugang und ist sowas wie First-Level-Support, Multiplikator und Botschafter dieses Produkts. Die Idee ist dann eben, dass Sie die Möglichkeit haben in ihrem Quartierladen ein Verkehrsmittel zu leihen, um dann beispielsweise einen grösseren Einkauf zu tätigen oder mit den Kindern quer durch die Stadt zu fahren. Insgesamt verfügen wir über 350 Carvelos in der Schweiz in mehr als 70 Städten. Das ist heute ein sich selbst tragendes Sharing-Angebot. Dieses Modell hat man im Sharing-Bereich selten. Viele andere Anbieter, ob Bird, Voi, Tier oder die freefloating Bikesharers wie Bond sind Risikokapital-finanziert. Das ist oft eine Wette auf die Zukunft, in der Hoffnung so lange durchzuhalten bis die Marktmacht so gross ist, dass das Angebot endlich rentabel wird. Wir wachsen ausschliesslich über die Mieteinnahmen und unsere «Carvelo-Partner», welche einzelne oder gleich mehrere Carvelos sponsorieren. Insgesamt sind Sharing-Angebote zu einem wichtigen Teil der modernen, urbanen Mobilitätswelt geworden und kaum eine Stadt kommt noch ohne aus.

Im Zoom-Interview mit Travelnews erläutert Jörg Beckmann die Veränderungen der Mobilitätswelt. Bild: TN

Erhält das Thema Sharing in Zeiten von Corona nicht auch Gegenwind? Von wegen, ich mag kein fremdes Fahrzeug antasten?

Einige Sharing-Anbieter  entliessen im Frühling gleich bis zu einen Drittel der Belegschaft. Das hing damit zusammen, dass die Flotte vorübergehend kaum genutzt wurde. Viele haben sich nun aber darauf eingestellt und haben Schutzkonzepte entwickelt. Da liegen etwa Desinfektionssprays bei E-Scootern auf oder Schutzhauben unter dem Helm, wenn man E-Scooter fährt. Auch die Trotti-Sharer kommen so langsam wieder. Die haben schon darunter gelitten. Wir bei Carvelo2go haben unseren Umsatz verdoppelt. Das lag daran, dass wir schon relativ früh Incentives geschaffen haben, dass die Leute bei uns eine Langzeitmiete machen können. Nicht Stunden- oder Tageweise, sondern sie erhielten das Velo zu günstigen Konditionen für vier Wochen. Klar, wenn man dann zuhause ist und kaum mehr Bahn oder Tram fährt, da haben wir mit unserem Sharing-Modell eine tolle Lösung. Carvelo2go ist in dieser Hinsicht krisenfest und resilient gewesen.

Sie haben 2019 die Mobilitätsarena ins Leben gerufen. Wie kam es dazu? Und wie schauts mit der diesjährigen Austragung aus?

Die letztjährige Premiere über fast vier Tage auf drei Bühnen mit über 1000 Teilnehmern war bis dahin sicherlich die grösste Mobilitätsveranstaltung der Schweiz. Unser Anspruch war, die unterschiedlichen Fachdisziplinen zusammenzubringen. Aber das Konferenzgeschäft leidet natürlich nun, Präsenzkonferenzen haben gerade keinen Aufschwung. Dennoch führen wir nun am 15. und 16. September die zweite Ausgabe durch. Wir halten am Prinzip der verschiedenen Fachkongresse fest. In diesem Jahr werden wir vier Fachkongresse auf zwei Bühnen abhalten. Wir haben tolle Rednerinnen und Redner, wegen den Schutzkonzepten können wir aber in diesem Jahr nicht 1000 Teilnehmer begrüssen, sondern maximal 300, darunter befinden sich Planer, Anbieter und Forscher. Gleichzeitig beobachten wir, dass digitale Konferenzmodelle in diesen Tagen an Bedeutung gewinnen. Auch wir werden in Zukunft vermehrt Webinare anbieten.

«Aktuell sind wir an Themen dran wie <urban air mobility>.»

Schon 2008 hat der TCS die Mobilitätsakademie ins Leben gerufen. Welche Projekte stehen hier an?

Zunächst lag unser Fokus auf den Elektrotrends. Da haben wir in den letzten Jahren viele Publikationen erstellt, Konferenzen durchgeführt und Forschungsprojekte umgesetzt, auch mit starker Unterstützung des Bundes. Im Elektromobilitätsmarkt in der Schweiz sind wir mit der Mobilitätsakademie sicherlich zum Themenführer geworden. Deswegen haben wir 2012 auch den Branchenverband Swiss eMobility ins Leben gerufen. Mit diesem Verband konnten wir in den letzten Jahren viele öffentliche Programme, aber auch konkrete Gesetze massgeblich mitbeeinflussen. Die Mobilitätsakademie ist ein «Think- & Do-Tank» für Neue Mobilität und als solche ein Tochtergesellschaft des Touring Club Schweiz. Ein weiterer wichtiger Meilenstein war 2013 der Einstieg in die geteilte Mobilität. Ein Projekt daraus war dann Carvelo2go. Aktuell sind wir an Themen dran wie «urban air mobility», denn mittlerweile sehen wir wie die Elektrifizierung und Automatisierung auf der Strasse immer mehr mit der neuen Luftfahrt konvergiert.

Und welche Trends orten Sie im touristischen und im Geschäftsreise-Verkehr? Welche Entwicklungen stehen den Airlines bevor?

Mit dem Wachstum des Flugreiseverkehr haben oder hatten wir ein Problem in den letzten Jahren und Jahrzehnten, damit verbunden auch ein Nachhaltigkeitsdefizit in diesem Sektor. Was wir jetzt feststellen ist, dass dieser Flugverkehrsmarkt nicht nur leidet, sondern partiell zusammenbricht. Und diese Zusammenbrüche, die heute stattfinden, werden morgen nicht gleich wieder aufgebaut. Eine Marktbereinigung steht an.

Auch in diesem Bereich glaube ich, dass die neuen Routinen, die wir heute erproben und einstudieren müssen und ein Stück weit auch wollen, für eine Veränderung sorgen werden und es nicht mehr davon auszugehen ist, dass wir quasi ohne zu reflektieren, mal schnell einen Flug buchen, um an diese Konferenz oder an jenes Ereignis zu fliegen, sondern dass wir uns das in den nächsten Jahren sicherlich überlegen werden, dass verhaltensseitig auch eine Veränderung stattfinden wird. Dies zwingt die Industrie wiederum sich zu fragen, wie gehe ich mit diesen neuen Kundenwünschen letztlich um. Damit kann man dann vielleicht nicht mehr den grossen Franken verdienen, aber vielleicht über andere Geschäftsmodelle profitabel und renditefähig werden.

Im letzten Jahr haben wir, ohne etwas Böses zu ahnen, einen Prototyp entwickelt mit dem Namen «Bleib hier». Dabei geht’s um Geschäftsmodelle im Reiseverkehr, mit denen man Geld verdienen kann, gleichzeitig aber die Umwelt schont, etwa mit Pop-up-Zelten auf privatem Grund oder Pier-to-Pier-Camping. Wir sehen ja auch, dass Airbnb derzeit Schwierigkeiten hat. Ich sag es mal so: all diese Wachstumsmodelle, wie Airbnb auch eines ist, sind vielleicht nicht krisenfest. Und es wird nicht weniger Krisen geben in den nächsten Jahren. Es gibt dieses schöne Sprichwort aus der Zukunftsforschung, das lautet: Change will never be so slow again. Der gesellschaftliche Wandel wird immer schneller sein und damit auch die eine oder andere Krise. Wir sind nicht resilient unterwegs in unserer Gesellschaft, mit unseren Geschäftsmodellen, mit unserem Verkehrssektor. Das müssen wir lernen zu sein in den nächsten Jahren.