Rail & Road

Nachtzüge wie hier der Nightjet der ÖBB dürften in Postcorona-Zeiten als Verkehrsmittel in Europa vermehrt wieder zum Zug kommen. Bild: Simon Tartarotti

Die Nachtzüge laden wieder zum Einsteigen ein

Kurt Metz

Die Nightjets aus der Schweiz beginnen am 27. Juni wieder zu rollen, zuerst jene von Zürich nach Hamburg und Berlin. Bis 30. September kann man zudem alle Abteile für den Einzelgebrauch zu günstigen Konditionen buchen.

Am 27. Juni 2020 wird der erste Nightjet nach dem Corona-Lockdown von Zürich nach Hamburg und Berlin rollen. Die Verbindungen nach Wien, Graz und Prag folgen am 29. Juni 2020. Die Wiederaufnahme des EuroNight Zürich–Zagreb ist für den gleichen Abend vorgesehen. Was in der Zeit des Social Distancings die Fahrt mit den Nachtzügen besonders attraktiv macht, ist die Möglichkeit der Einzelbelegung von Abteilen. Für grösstmögliche Privatsphäre können diese in den drei Komfortkategorien Schlafwagen, Liegewagen und Sitzwagen als exklusives Abteil gebucht werden. So fahren Einzelreisende, Familien und Freunde in einem Abteil, ohne dieses mit fremden Mitreisenden teilen zu müssen.

Nightjet- und EuroNight Verbindungen mit Bezug zur Schweiz. Bild: ÖBB

In Städte und zu Ausgangsorten

Damit dürfte die Renaissance des Nachtzugs definitiv eingeläutet sein, über welche an dieser Stelle schon berichtet wurde. Denn gegenüber dem immer umständlicher und langwierigeren Fliegen auf Europastrecken bietet die Reise auf der Schiene über Nacht eine Vielzahl von Vorteilen: Einsteigen bis kurz vor Abfahrt ohne Formalitäten und Kontrollen im Stadtzentrum, Bewegungsfreiheit an Bord und Ankommen am nächsten Morgen in der Stadtmitte mit dem Gepäck bereits in der Hand, bevor der erste Flieger an der Peripherie landet – wenn überhaupt, in diesen unsicheren Zeiten.

Die Destinationen von Nachtzügen sind ideal für Städtereisen sowie als Ausgangspunkte für die Weiterfahrt mit der Bahn oder die Übernahme von Mietwagen und Campers wie beispielsweise in Hamburg für Skandinavienreisen. Für Ostschweizer eignen sich auch die Abfahrten der Nightjets ab Bregenz und Feldkirch nach Villach, Graz und Wien – hier besteht sogar die Möglichkeit, das eigene Auto oder Motorrad zu verladen. Das gleiche gilt für den AutoReiseZug von der BahnTouristikExpress ab dem grenznahen Lörrach nach Hamburg. Wer nach Süditalien will, für den stehen ab Mailand die «Intercity Notte» bis nach Lecce (Apulien) und sogar nach Sizilien (Catania, Palermo, Syracuse) mit dem Verlad des Zugs auf die Fähre über die Meerenge von Messina bereit.

Neue Nachtzüge in Sicht

Dass das Nachtzugangebot im Herzen Europas weiterhin besteht und beste Aussichten hat, erweitert zu werden, ist den Österreichischen Bundesbahnen (ÖBB) zu verdanken. Sie investieren aktuell 230 Millionen Euro in 13 neue Nightjet-Kompositionen mit je zwei Schlafwagen mit 2-Bettabteilen und Dusche/WC, 3 Liegewagen mit neuartigen Single-Abteilen und Mini-Suites für zwei Personen mit viel Privatsphäre sowie 4-Bett Liegeabteile für Familien mit einer zusätzlichen Kinderliege und zwei Sitzwagen.

Die Inbetriebsetzung der neuen Nightjet-Züge ist für Ende 2021 vorgesehen und wird zuerst wegen den strengen Brandschutzbestimmungen im Italienverkehr stattfinden. Dafür wird bestehendes Rollmaterial für mehr Kapazität auf den populären Verbindungen frei und neue können eingeführt werden. Aus Schweizer Sicht wäre die Renaissance der populären Ziele Amsterdam, Barcelona, Dresden, Prag, Kopenhagen und Rom erstrebenswert.

Es gibt aber auch andernorts vielversprechende Entwicklungen. Beispielsweise die neue, saisonale Verbindung von Sylt nach Salzburg, der «Sylt-Alpen-Express» mit Liegewagen, bei denen jeweils ein Abteil zum Fixpreis gebucht werden kann, ungeachtet der Personenzahl. Das mag für Schweizer etwas «ab vom Schuss» sein, ist jedoch eine spannende Verbindung für das Incoming - und zwar in beiden Richtungen!

Blick vom Gang in die neuen Single Abteile der Liegewagen (links) und der Möglichkeit, zwei nebeneinanderliegende Abteile mittels einer Schiebewand zu einer Mini-Suite zu verbinden. Bild: ÖBB

Nachtzüge nach Corona

Inwieweit die Auswirkungen der Corona-Pandemie die Entwicklung der grenzüberschreitenden Bahnverbindungen im Allgemeinen und die Nachtzugrelationen im Speziellen beeinflussen, lässt sich noch nicht abschätzen. Folgende Annahmen sind zurzeit wahrscheinlich und erhöhen die Attraktivität der Nachtzüge:

  • Das Flugangebot wird mittelfristig nicht auf das frühere Niveau zurückkehren sowohl bei den Strecken, den Frequenzen, der Grösse der Flugzeuge und folglich der Kapazitäten
  • Die Flugpreise steigen in absehbarer Zeit
  • Die Gesundheitskontrollen («Gesundheitspass») und -checks (Temperaturmessung) verlangsamen und verlängern den Einsteigevorgang zusätzlich
  • Der Komfort in der Flugzeugkabine sinkt (Maskenpflicht)
  • Die Mehrwertsteuer auf Flugbilletten wird erhoben und den Bahnbilletten angeglichen
  • Das Flugpetrol wird besteuert
  • Die Maut für Fernbusse wird eingeführt
  • Die CO2-Abgaben für alle Transportmittel werden harmonisiert
  • Die Trassenpreise für Nachtzüge werden abgesenkt

Die Vorzeichen für eine Renaissance eines gesamteuropäischen Nachtzugnetzes stehen also gut. Das Umweltbewusstsein wächst und ergreift auch die Politik. Regierungen erteilen ihren Verkehrsämtern Aufträge zur Abklärung der Rahmenbedingungen für einen Ausbau der nationalen und grenzüberschreitenden Nachtzugrelationen. Diese zeigen auf, dass diese realisierbar und finanzierbar sind. Dänemark als kleines Land versteht sich in der Zukunft als Drehscheibe zwischen den Nordischen Ländern und dem kontinentalen Europa und ist bereit, dafür finanzielle Mittel einzubringen. Schweden setzt für den Binnenverkehr auf Wettbewerb unter drei Nachtzug-Operateuren. Für das Nightjet-Netz der ÖBB scheint dies nicht nötig zu sein, da ihr Konzept die Übernahme von gemeinwirtschaftlichen und damit abgegoltenen Leistungen zu den nächtlichen Randstunden abends und morgens einschliesst.

Die Schweiz mit ihrer zentralen Lage in Europa, der hohen Reiseintensität seiner Einwohner und der ebenso hohen Bereitschaft, für Qualitätsangebote entsprechende Preise zu bezahlen, ist geradezu prädestiniert, den Mittelstreckenverkehr für Reisezeiten mit dem Nachtzug von 10-14 Stunden (zirka 800–1500 Kilometer) einzuführen und zu pflegen. Zudem findet der Passagierstrom nicht nur in einer Richtung statt, sondern das Nachtzugangebot kann und soll auch von Incoming-Touristen genützt werden. Dass dieser in Zukunft verstärkt auf der Schiene erfolgen wird, liegt angesichts des wachsenden Umweltbewusstseins und den zweifellos langanhaltenden Auswirkungen der Corona-Pandemie auf der Hand. Daher darf sich das Engagement der SBB nicht länger mit der «Kooperationsstrategie» - also Marketing und Verkauf - begnügen. Für das ÖV-Vorzeigeland Schweiz sind Investitionen in Nachtzug-Rollmaterial und eine allenfalls notwendige Anschubfinanzierung des Betriebs auch eine Sache der Glaubwürdigkeit.