Rail & Road
Noch viel Arbeit nötig, um das Potenzial der Nachtzüge abzuschöpfen
Jean-Claude RaemyIn diesem Jahr, in welchem der globale Klimaschutz in die vorderen Agendenränge von Politik und Medien gerückt ist, sind auch die Bahnen wieder vermehrt im Fokus. Dabei gibt es eine Nische, welche plötzlich wieder besondere Aufmerksamkeit erhalten hat: Die Nachtzüge. Warum sollten längere innereuropäische Reisestrecken nicht komfortabel und vergleichsweise umweltfreundlich mit Nachtzügen abgedeckt werden können? Zu Initiativen hierzu gab es dieses Jahr mehrfach zu berichten: Zum einen hat ja die SBB angekündigt, gemeinsam mit den ÖBB wieder Nachtzüge anbieten zu wollen. Gerade am Montag dieser Woche (11. November) traf sich die Verkehrskommission des Nationalrates (KVF) mit Vertretern der SBB, um über das Thema Nachtzüge zu diskutieren und allenfalls finanzielle Unterstützung durch den Bund zu gewähren. In Schweden, dem Heimatland der «Flugscham», wird ebenfalls intensiv über Nachtzüge diskutiert.
Nun weiss man aber auch, dass gewisse grosse Themen nach dem medialen Hype wieder abflauen. Die Frage, ob Nachtzüge nur ein Hype sind oder eine echte Renaissance erleben, ist somit brandaktuell und bildete den Rahmen für eine Informationsveranstaltung der Bahnjournalisten Schweiz. Bei dieser wurden auch Blicke über das die Schweiz betreffende Angebot in Europa gerichtet sowie über politische Rahmenbedingungen und technische Limitierungen diskutiert, mit spannenden und engagierten Referaten sowie einem Panel. Rund 40 Personen waren dabei, darunter auch Travelnews - etwas irritierenderweise aber keine Vertreter von SBB oder ÖBB.
Ausgangspunkt
Als den «Anfang vom Ende» bezeichnet Tagungsmoderator Kurt Metz den Entscheid im Jahr 2007, mehrere funktionierende Nachtzugangebote zur «CityNightLine» zusammenzulegen. Zwar gibt es weiterhin interessante Angebote und Strecken, gerade die Routen ab der Schweiz nach Hamburg oder Kopenhagen haben eine sehr gute Auslastung. Jedoch leidet das Nachtzug-Angebot an mehreren Problemen: Schlechte Buchbarkeit, wenig PR, eine Vernachlässigung innerhalb des gesamten Bahnangebots, ein schlechtes öffentliches Image, wenig Innovation. Und so kommt es, dass die Deutsche Bahn (DB) Ende 2016 den Stecker zieht; auch die SBB wird ihr gesamtes Nachtzug-Rollmaterial veräussern. Trotz Protesten vieler Nutzer gibt es aus Schweizer Sicht den Wegfall von Strecken etwa nach Amsterdam oder Dresden; immerhin übernehmen die ÖBB einige Paradestrecken wie etwa Zürich-Hamburg. Ein Risiko, welches sich aus ÖBB-Sicht übrigens durchaus gelohnt habe.
Trotzdem ist das Nachtzug-Angebot in Europa bei Weitem nicht da, wo es eigentlich sein müsste bzw. sein könnte. Das paneuropäische Netzwerk «Back on track», welches sich für gesamteuropäischen Bahnverkehr und insbesondere ein Comeback der Nachtzüge einsetzt, listet mehrere Vorteile von Nachtzügen auf: Solche können Hotelkosten sparen, die «Red Eye»-Flüge zu Tagesrandzeiten überflüssig machen, Bedienungslücken schliessen sowie den Hochgeschwindigkeitsverkehr ergänzen. Klingt gut, doch hier kommen bereits die Probleme zum Tragen: Mehrfach im Verlauf der Tagung wird erwähnt, dass die Bahnen nach wie vor einen Wettbewerbsnachteil gegenüber dem Flug haben, weil dieser etwa keine Kerosinsteuer zahlen muss und auch keiner Umsatzsteuer unterstellt ist, im Gegensatz zu den Bahnen. Es gebe also keine fairen Rahmenbedinungen im Wettbewerb der Verkehrsmodi. Das ist natürlich richtig, jedoch auch gewissermassen ein Hinweis auf ein Unvermögen der Bahnindustrie: Es scheint, als ob Wachstum primär nur zu Lasten des Flugbereichs erzielbar ist bzw. angestrebt wird. Dabei gibt es, auch das wird im Verlauf des Events schön deutlich, genügend andere «Hausaufgaben», welche die Bahnbetreiber zuerst lösen müssen - etwa im Bereich der Interoperabilität oder der Betriebskosten. Ein Punkt, der auch dem Bund nicht unbekannt ist. «Selbst bei guter Auslastung wird das ausgebaute Nachtzug-Angebot nicht kostendeckend sein», schreibt die Verkehrskommission in einer Mitteilung.
Greta Stieger (Umverkehr), welche die Kampagne «Zug statt Flug» vorstellt, bemerkt auch Lücken im Nachtzug-Angebot etwa in den Süden oder Westen Europas, was das Umsteigen vom Flug auf den Zug natürlich wesentlich erschwert. Eine «Stärkung umweltfreundlicher Alternativen» wird auch gedämpft, weil es in der Schweiz keinen vernünftigen Autoverlad gibt (dafür muss man z.B. nach Lörrach/D). Selbst Felix Hösch, Zürcher SP-Kantonsrat, anerkennt in seinem Referat: «Wenn man die Anzahl Flüge stutzen will, muss das Bahnangebot zuerst verbessert werden.» Immerhin werde schon mal an der Verbesserung des multimodalen Verkehrs gearbeitet, denn der Flugverkehr wird nicht einfach weggehen. Und es gibt auch gute Initiativen etwa im Bereich der Gepäckbeförderung.
Die Wünsche aus dem Touroperating
Ein Highlight der Veranstaltung ist das Referat von Railtour-CEO Werner Schindler, in welchem dieser der Bahnindustrie einen schonungslosen Spiegel vorhält und in Form von Wünschen eine klare Message hinüberbringt, wie man das Bahngeschäft generell und das Nachtzuggeschäft im Besonderen wieder langfristig auf Vordermann bringen könnte. Denn das sei trotz dem aktuellen Hype und der guten Nachfrage nach Bahnprodukten nötig.
Schindler hält zunächst fest, dass die Luftfahrt einen Paradigmenwechsel geschafft hat, welchen die Bahn nicht geschafft hat. Früher war fliegen mit Status verbunden, heute ist fliegen hip und günstig, womit gerade die Jungen angesprochen werden. Die Bahn habe es noch nicht geschafft, ihr verstaubtes Image abzustreifen. Was es dazu bedürfe, seien nicht punktuelle Marketinggags, sondern eine radikale Neupositionierung. Dabei sei auch die Politik gefordert, welche sich fragen muss, was die Gesellschaft wirklich will und benötigt, und davon ausgehend Leitplanken erstellt etwa im Bereich der Förderung oder der Taxierung.
Zu den von Schindler geäusserten Wünschen gehört zunächst einmal eine hohe Zuverlässigkeit im Bahnverkehr. Natürlich gibt es den völlig reibungsfreien Transport nicht, doch gibt es klar Luft nach oben. Er hat aber auch provokative Wünsche: Sollen Bahnen die Preisphilosophie der Airlines kopieren? Wo ist die Innovationskraft beim Material? Versinnbidllicht etwa daran, dass es längst selbstreinigende WCs gibt, solche aber in Zügen noch nirgends zu finden gibt. Dazu werden die Soft-Vorteile der Bahn wie «mehr Zeit» oder «Blick auf die vorbeiziehende Landschaft» viel zu wenig im Produkt berücksichtigt, also etwa beim vorhandenen Unterhaltungsangebot oder im F&B-Bereich. Und was ist mit PR? Wieso sind alle Influencer in Flugzeugen und nicht in Bahnen unterwegs? Sein grösster Wünsch allerdings, womit auch alle einverstanden sind: «Den Trassen-Wahnsinn beenden!». Also die Kosten, welche die Bahnen für die Nutzung der Infrastruktur tragen, besser in den Griff kriegen.
Um das verstaubte Image loszuwerden, erklärt Schindler auch, dass man konsequent auf die Jugend, also den Konsumenten von morgen, setzen müsse. «Die Alten sind nur Follower und nicht die echten Innovatoren», hält Schindler fest und erhält dafür anerkennendes Nicken von den Anwesenden, deren Durchschnittsalter von Kurt Metz euphemistisch als «über 30» taxiert wird... Und die Jungen muss man ja auch mit moderner Technologie abholen - immerhin hat Railtour da mit der Lancierung der dynamischen Bahnbuchungen auf einer multimodalen B2B-Buchungsoberfläche, welche dereinst wohl auch B2C eingesetzt wird, vorgespurt. Damit verstehen auch Junge bei der Bahnbuchung nicht mehr nur Bahnhof.
Case Studies
Natürlich gibt es auch interessante «Case Studies». Mischa Niederl (Globetrotter Tours) erzählt über interessante interkontinentale Bahnprodukte, stellt aber auch fest, dass es auf anderen Kontinenten mit einer echten länderübergreifenden Fernstrecken-Bahnversorgung nicht weit her ist, vielleicht mit Ausnahme einiger asiatischer Länder. Immerhin kann er erfreut feststellen, dass bei der Tochtergesellschaft Globotrain der Umsatz mit Nachtzug-Angeboten innerhalb der letzten beiden Jahre verdoppelt wurde.
Ein Hinweis auf steigende Nachfrage? Gewiss. Ein interessantes Referat von Roberto Rinaudo (CEO von Thello, einer Trenitalia-Tochter, welche seit 2011 Nachtzugverbindungen zwischen Paris und Venedig bietet und dabei die Schweiz durchfährt) führt aber auch die Probleme nochmals deutlich vor Augen. Das Produkt ist modern, innovativ, es gibt Wifi in allen Wägen, es gibt Animationen in den Zügen und man kann darin auch Tickets für Erlebnisse in den Zielstädten entlang der Strecke kaufen. Doch die Züge kämpfen immer wieder mit riesigen Verspätungen. Grund: Langwierige Zollkontrollen (aus Angst vor illegaler Immigration auf dem Bahnweg), also gewissermassen behördliche Schikanen, sowie zahlreiche und regelmässige Bauarbeiten auf dem Streckennetz. Rinaudos Fazit klingt ähnlich wie anderswo Gehörtes: Der europaweite Nachtzug-Bahnverkehr hätte durchaus Potenzial, es müssen aber alle Akteure - Bahngesellschaften wie auch die Politik und die Trassen-Dienstleister - mitziehen.
Im Übrigen wird Rinaudo noch eine weniger bekannte Message los: Ab Mailand verkehren 20 Nachtzüge quer durch Italien bis hinunter nach Sizilien. Wer also eine kurze Anreise ab der Schweiz nach Mailand auf sich nimmt, findet dort durchaus valable Nachtzugangebote für die lange Reise durch den Stiefel. Aktuell ist nämlich das Nachtzugangebot in Europa zwar nicht schlecht, aber doch mit ziemlich vielen Lücken versehen, wie diese Karte eindrücklich zeigt.
Weitere Case Studies beschäftigten sich mit beispielsweise mit der Frage darüber, wie schnell man vernünftiges Rollmaterial für neue Nachtzüge haben könnte (worüber Matthias Stöhr von Stadler Rail kompetente Auskunft gibt) oder wie man Nachtzüge überhaupt gewinnbringend betreiben könnte, wofür Kurt Metz Auszüge aus einer Masterarbeit mit Titel «Eine Zukunft für Nachtreisezüge in Europa» präsentiert.
Fazit
Im Rahmen einer Paneldiskussion, bei welcher diverse Fragen aufkamen, wurde zum Abschluss versucht, aus dem Gehörten ein Fazit zu ziehen. Da wurde etwa gefragt, ob Nachtzugangebote als Kreuzfahrtzubringer ein Thema wären - was natürlich wünschenswert wäre, momentan aber noch Zukunftsmusik ist. Eine Vertreterin des VCS meldete sich auch noch zu Wort und verwies auf eine im Sommer veröffentlichte VCS-Umfrage, wonach eine überraschend grosse Nachfrage nach Nachtzügen bestehe - und in diesem Zusammenhang ihrer Sorge Ausdruck gab, dass neuere Nachtzugangebote offenbar vor allem High-End-Kundschaft ansprechen sollen, jedoch einer breiten Öffentlichkeit (finanziell) zugänglich sein müssten.
Kurt Metz hielt abschliessend fest, dass es nicht nur Nachtreisezüge per se bräuchte, sondern eben auch vermehrt Auto-/Motorrad-Reisezüge, und dass zweifellos Innovationen im Nachtzugbereich zwingend nötig sind. Die Vorteile von Nachtzügen müssten zudem vermehrt auch «emotional rübergebracht» werden, also ein Appell an die Selbstvermarktung der Bahnbetreiber. Gelinge dies, so seien Nachtzüge nicht bloss ein wieder verblassender Hype, sondern eine echte Alternative für nachhaltigen Langstreckenverkehr in Europa oder gar weltweit.