On The Move
Lufthansas dunkelste Stunde
Patrick HuberAm 20. November 1974 stürzte eine Boeing 747-130 der Lufthansa kurz nach dem Start in Nairobi ab. 5 Crewmitglieder und 54 Passagiere fanden den Tod. Der österreichische Aviatikexperte Patrick Huber hat das Ereignis akribisch aufgearbeitet und in einem Buch verewigt. Der Absturz der «Hessen» war der erste tödliche Jumbo-Absturz überhaupt.
Der Schock war immens. Die erst seit vier Jahren im Flugbetrieb stehende Boeing 747, die als besonderes sicher galt, stürzte unmittelbar nach dem Weiterflug von Nairobi nach Johannesburg ab und ging in Flammen auf. Schon bald wurde ein Strömungsabriss (Stall) kurz nach dem Start als unmittelbare Ursache des Absturzes eruiert, verursacht durch nicht ausgefahrene Klappen an der Vorderkante der Tragflächen.
Der österreichische Journalist Patrick Huber, der schon mehrere Aviatik-Fachbücher veröffentlicht hat, hat nach minutiöser Recherchearbeit den ganzen Ablauf rekonstruiert und in einem spannenden Buch zusammengetragen.
Flugbegleiter zerrte Überlebende ins Freie
Detailliert schildert er was in den letzten Minuten im Cockpit alles passierte, bis es zum Absturz kam. Für die überlebenden Piloten und den Bordingenieur mehr als nur eine traumatische Erfahrung, als sie realisierten, dass der Jumbo trotz aller Bemühungen nicht mehr weiter beschleunigte und der Crash nicht mehr vermeidbar war. Ein Horrorszenario für jeden Piloten.
Autor Patrick Huber hat den Überlebenskampf im Flammeninferno ebenso zusammengetragen wie das heldenhafte Bemühen der Flugzeugcrewmitglieder, obwohl sie zum Teil selber schwer verletzt waren, die überlebenden Passagiere aus dem brennende Rumpf zu retten. Der Flugbegleiter Tom Scott etwa kletterte wiederholt ins brennende Wrack zurück, um Überlebende aus ihrem Sitz ins Freie zu zerren.
Die beiden Piloten Christian Krack und Hans-Joachim Schicke sowie der Bordingenieur Rudi Hahn waren in ihrem Cockpit gefangen, weil die Notausstiegslucke klemmte. Der Pilot und der Bordingenieur schafften es ins Unterdeck zu gelangen, wobei der Flugingenieur und der Pilot verletzt wurden, weil sie mehrere Meter in die Tiefe springen mussten. Dem ersten Offizier gelang es auch nicht, die Notausstieglucke zu öffnen. Er seilte sich deshalb aus der Lucke im Cockpitdach neun Meter in die Tiefe ab.
Umstrittener Abschlussbericht
Unmittelbare nach dem Absturz sandte die Lufthansa eine Ersatzmaschine nach Nairobi, die die Überlebenden nach Deutschland zurückflog. Ein Sonderflug brachte auch 80 Experten nach Kenia, die die Absturzursache so schnell wie möglich eruierten sollten. Mit Hilfe von Zeugenaussagen, darunter war auch diejenige eines belgischen Berufspiloten, wurde schnell klar, dass das Flugzeug beim Abheben viel zu wenig Auftrieb hatte, weil die wichtigen Auftriebshilfen während des Starts nicht ausgefahren waren.
Im Zuge der Unfallermittlungen verhielt sich die Lufthansa «mehr als schäbig». Noch vor Erscheinen des Untersuchungsberichts entliess sie Kapitän Christian Krack sowie den Flugingenieur Rudi Hahn fristlos. Nur Co-Pilot Schicke behielt seinen Job. Das Arbeitsgericht Frankfurt kassierte die Kündigungen vier Monate später. Krack und Hahn wurden in den Vorruhestand versetzt und betraten nie mehr ein Cockpit. Die Lufthansa verweigerte die Herausgabe der Untersuchungsergebnis an das Luftfahrtbundesamt, worauf die Staatsanwaltschaft zu ermitteln begann.
Im Abschlussbericht der East African Community anderthalb Jahre nach dem Absturz steht, dass der Absturz, der Besatzung zuzuschreiben sei. Ein Investigativjournalist hat allerdings in Erfahrung gebracht, dass die Lufthansa «unter Missachtung internationaler Rechtsnormen» Einfluss auf den Inhalt des Berichts genommen hat.
Fünf Jahre nach dem Absturz nahm dann aber nur Bordingenieur Rudi Hahn auf der Anklagebank Platz. Die Staatsanwaltschaft forderte 8 Monate Gefängnis auf Bewährung. Im Dezember 1981 endete der Prozess mit einem Freispruch. Co-Pilot Hans-Joachim Schacke flog bis zur Pensionierung für die Lufthansa. Der ehemalige Starfighter-Pilot ist heute 85 Jahre alt und das letzte noch lebende Cockpitmitglied des Unglückfluges LH 540.
«Der erste Crash einer Boeing 747 überhaupt»
Herr Huber, was war Ihre Motivation, ein Buch zum Absturz der «Hessen» zu schreiben?
Patrick Huber: Ich konzentriere mich bei meinen Reportagen und Büchern gerne auf Nischenthemen. Der Absturz der «Hessen» war der erste Crash einer Boeing 747 überhaupt. Trotzdem ist dieser Unfall, der sich heuer zum 50. Mal jährt, in der Öffentlichkeit kaum noch bekannt. Selbst in Luftfahrtkreisen wissen viele Menschen nichts davon oder haben bestenfalls mal «am Rande irgendwann irgendwas davon ». Kein Wunder, denn Informationen im Internet dazu sind sehr spärlich, manchmal auch falsch. Im deutschsprachigen Wikipedia zum Beispiel steht teilweise kompletter Unsinn dazu, und offenbar gab es bis zu meinem überhaupt kein Buch auf Deutsch zu diesem Thema. Sogar auf Englisch habe ich lediglich eine einzige Buch-Publikation gefunden, den subjektiven Bericht eines Überlebenden von 1982. Da stand für mich fest: Das muss ich machen, denn dieser Absturz war immerhin ein luftfahrthistorisches Ereignis von enormer Tragweite, das die Verkehrsluftfahrt bedeutend sicherer gemacht hat, da man nach dem Absturz der «Hessen» unter anderem umfassende Verbesserungen betreffend das Warnsystem der Vorflügel der Boeing 747 durchführte.
Fast alle Zeitzeugen sind tot. Wie schwierig gestalteten sich dadurch die Recherchen?
Das war in der Tat eine grosse Herausforderung. Glücklicherweise konnte ich bei meinen umfassenden Recherchen auf viele früher dokumentierte Aussagen von mittlerweile verstorbenen Zeitzeugen zurückgreifen, die ich in mein Buch eingearbeitet habe. Diese Dokumente waren neben vielen zeitgenössischen Medienberichten und dem offiziellen Unfallbericht, der das Fundament bildete, sehr hilfreich. Grosse Unterstützung erfuhr ich bei meiner Arbeit aber auch von mehreren ehemaligen Lufthansa-Flugingenieuren und Piloten, die mich fachlich beraten und das gesamte Manuskript vorab Korrektur gelesen haben. Ich konnte sogar einen Flugingenieur interviewen, der den Flugingenieur der «Hessen» (ebenfalls schon lange verstorben) noch persönlich gekannt hat.
Wie beurteilen Sie persönlich, dass Verhalten der damaligen Lufthansa-Manager, die versuchten die Schuld am Absturz der Cockpit-Crew zuzuschieben?
Da ich kein Jurist bin, möchte ich diese Frage aus ethisch-moralischer Sicht beantworten. Dass man den Kapitän und den Flugingenieur noch bevor es überhaupt einen offiziellen Abschlussbericht gab, fristlos entlassen und das nach meinen Recherchen wohl auch noch mittels Presseaussendung in die Welt hinausposaunt hat, war meiner Meinung nach eine hochgradige Sauerei der Lufthansa. Anders kann ich das nicht nennen. Auch juristisch war dieser Schritt übrigens nicht haltbar, denn das Arbeitsgericht hat die Entlassung der beiden Männer ziemlich rasch wieder kassiert. Geflogen sind sie trotzdem nicht wieder, Lufthansa schickte sie in den Vorruhestand. Es ist aber auch bezeichnend, dass die heutige Konzernmutter der Swiss und der AUA, die Lufthansa, selbst ein halbes Jahrhundert später dieses Thema noch meidet wie der Teufel das sprichwörtliche Weihwasser. 2014, als ich eine Reportage über den Absturz für ein Fachmagazin verfasste, erhielt ich auf meine Anfrage von der Lufthansa-Pressestelle immerhin eine kurze Antwort, in der es hiess, dass man «generell kein Material über Unfälle an die Öffentlichkeit» gebe und jedes Statement zu bzw. jede Unterstützung meiner Arbeit verweigerte.
Als ich dieses Jahr für die Recherchen zu meinem Buch «Lufthansa Flug 540: Der erste Jumbo Absturz» bei Lufthansa erneut um eine Stellungnahme bat und einige ganz konkrete Fragen übermittelte, bekam ich nicht einmal mehr eine Antwort. Angekommen ist meine Mail aber zweifellos, denn es kam eine automatische Empfangsbestätigung zurück. Aus diesem Verhalten der Lufthansa möge jeder Leser seine eigenen Schlüsse ziehen.