On The Move

Schifffahrtsanalyst Thomas P. Illes war als geladener Gast auf der Einführungsfahrt der Icon of the Seas mit dabei. Bild: Rita Röösli

«Die Icon of the Seas spielt in einer komplett neuen Liga

Reto Suter

Schifffahrtsanalyst Thomas P. Illes war auf der Einführungsfahrt des neu weltgrössten Kreuzfahrtschiffs Icon of the Seas dabei. Im Interview mit Travelnews schildert der international renommierte Kreuzfahrt-Experte seine Eindrücke.

Die Icon of the Seas der US-Reederei Royal Caribbean ist seit wenigen Tagen mit Gästen auf hoher See unterwegs. Zu den ersten Passagieren, die das derzeit grösste Kreuzfahrtschiff der Welt erkunden durften, gehörte der Schweizer Wirtschaftsberater, Schifffahrtsanalyst und Hochschuldozent Thomas P. Illes. Er war bei der Einführungsfahrt durch die Karibik mit an Bord.

Herr Illes, die letzte Woche durch Fussballstar Lionel Messi in Miami getaufte Icon of the Seas wurde bereits Monate vor ihrer Einführung enorm gehypt und stösst seither auf ein gewaltiges Medieninteresse. Ist das neue Schiff so revolutionär und innovativ, wie es angekündigt wurde?

Thomas P. Illes: Einerseits ja, andererseits nein.

Können Sie das etwas näher erläutern?

Ähnlich grosse Schiffe wie die Icon of the Seas haben Royal Caribbean und mit etwas Abstand auch andere Reedereien schon länger in Fahrt. So ist die Icon bezüglich des Rauminhalts «nur» knapp sechs Prozent grösser und ein paar wenige Meter länger als der vorgängige Rekordhalter Wonder of the Seas der Oasis-Klasse. So bahnbrechend ist die Schiffsgrösse also keineswegs. Und die von manchen Medien fälschlicherweise als Weltneuheit vermerkte Eislaufbahn gibt es mit der 1999 erfolgten Einführung der Voyager of the Seas bereits seit einem Vierteljahrhundert. Auch der Central Park mit tausenden echten Pflanzen und Bäumen ist keine Neuheit. Dieser wurde zwar auf der Icon nochmals erweitert. Das erste Mal sah man einen solchen Park mit integrierten Restaurants, Lounges und Bars aber bereits auf der 2009 fertiggestellten Oasis of the Seas.

Waren also alle angekündigten neuen Superlative nur heisse Luft?

Auf keinen Fall! Neben Premieren wie dem riesigen, multifunktionalen Lounge- und Showkomplex Aquadome mit integriertem Wasserfall vorne über der Brücke, dem weltweit ersten schwebend wirkenden Infinity-Pool auf einem Schiff und dem grössten Wasserpark auf hoher See ist das Schiff eine beeindruckende Weiterentwicklung – unter Berücksichtigung zukünftiger Ferien- und Freizeittrends. Ebenfalls neu sind die sehr vielen Bereiche mit grossen Fensterflächen, die einen tollen Ausblick auf Meer und Küstenlinien bieten. Das Ambiente ist also insgesamt heller, was für das ganze Schiff gilt. Am meisten überrascht hat mich aber etwas anderes.

Nämlich?

Das Schiff präsentiert sich – und zwar durchaus im positiven Sinne – weit unaufgeregter und weniger exzentrisch als gedacht. Effekthascherische Gigantomanie im Sinne überladener Superlative à la Disney World, Las Vegas oder Dubai gibt es nicht. Auch das von vielen Kreuzfahrtskeptikern regelmässig genannte und von den Bildern her am ehesten erwartete Wohnsilo- oder «Plattenbauambiente» stellt sich in Realität nicht ein. In den ersten paar Stunden des Aufenthalts an Bord mag man durchaus etwas erschlagen sein ob all den Dimensionen und Eindrücken. Trotz dem vollgepackten Unterhaltungs-, Show- und Freizeitangebot rund um die Uhr herrscht aber eine ausnehmend edle, zum Teil fast schon zurückhaltend-hochwertige und entspannende Atmosphäre – geprägt von Modernität und einem Gefühl von genügend Raum und Weite, wie man es so in dieser Kombination auf anderen Kreuzfahrtschiffen der Mainstream-/ Volumenklasse noch nicht erleben konnte. Da spielt die Icon of the Seas tatsächlich in einer komplett neuen Liga und läutet ohne Übertreibung eine neue Kategorie ein! Das hat in entscheidendem Masse auch mit dem – selbst im Vergleich zu landgestützten Resorts – wegweisenden Design samt hervorragender, nie aufdringlicher, Akustik, dem ausgeklügeltem Lichtkonzept und der Güte der Materialien zu tun. Insgesamt ist hier den Designern und Innenarchitekten ein grosser Wurf gelungen.

Ist die von Ihnen geschilderte Design- und Angebotsoffensive für unseren Geschmack aber nicht doch etwas zu viel des Guten?

Man muss das schon auf sich wirken lassen und sich darauf einlassen wollen. Auf die Schnelle erschliessen sich einem diese Vorzüge mit ihrer Vielzahl an raffinierten Details – auch in Sachen geschmacksvoller Kunstinstallationen, Bildern, Grafiken, etc. – nicht. Und genau das macht unter anderem den Reiz aus, sich auf diesem Schiff auf eine ausgiebige Entdeckungsreise zu begeben, auf der manche Gäste aus dem Staunen so schnell nicht herauskommen dürften. Einen erheblichen Anteil am gebotenen Wohlfühlfaktor hat übrigens auch die hervorragende, professionelle und überaus freundlich-herzlich agierende Crew – auch keine Selbstverständlichkeit auf einem Megaschiff.

Auf den Fotos sieht das Schiff aber ziemlich bunt und farbig aus, fast schon kitschig!

Das täuscht. Auf den Bildern, vor allem auch bei Abend- und Nachtaufnahmen, sieht alles tatsächlich schriller, farbiger, «amerikanischer» aus. Natürlich gibt es auch Bereiche mit ausgeprägt farbigen und bunten Elementen, was gerade die wichtige Zielgruppe der Kinder sehr anspricht. Kitschig ist das aber nirgends. In Realität ist alles sehr viel edler und wertiger, als man aufgrund der Bilder vermuten würde. Teilweise, vor allem im erwähnten Aquadome über dem Bug mit überwältigendem Panoramablick, fühlt man sich wie in einem Science-Fiction-Film. Und es ist tatsächlich das erste Schiff, auf dem man sich macnhmal mehr als Teil eines ästhetischen Renderings als in der Realität wähnt. Das mag einem gefallen oder nicht, von einem Innovations-, Konstruktions- und Architekturstandpunkt her ist es jedoch enorm eindrücklich.

Viele Leute zucken zusammen, wenn sie sich ein Schiff mit einer maximalen Gästekapazität von 7600 Passagieren und 2350 Crewmitgliedern, also insgesamt knapp 10'000 Leuten vorstellen müssen. Kommt an Bord nie ein Gefühl der Enge auf?

Das Schiff ist so gross, dass die Schiffsbreite manchmal den Eindruck erweckte, es handle sich um die Schiffslänge. Das Gefühl von Platz und Raum ist allgegenwärtig. Allerdings war das Schiff auf der Einführungsfahrt nicht voll ausgelastet, es waren «nur» etwa 4000 Gäste an Bord. Meiner Erfahrung nach funktioniert das «Crowd Management» bei Royal Caribbean jedoch auch bei Vollauslastung ausnehmend gut, so dass sich die Massen bestens verteilen und man nie mitbekommt, mit wie vielen Leuten man reist. Interessant ist auch, dass der Platz pro Passagier bei der Icon of the Seas im Vergleich zur Oasis-Klasse nochmals erhöht wurde. Auch das ist spürbar. Die hohe maximale Passagierkapazität kommt vor allem deshalb zustande, weil die Icon im Vergleich zur Oasis-Klasse noch sehr viel mehr Familienkabinen mit Zusatzbetten bereithält. Dass alle diese Kabinen jemals maximal belegt sind, ist eher unwahrscheinlich.

Will das neue Schiff also primär Familien ansprechen? Oder für wen erachten Sie das Schiff sonst noch als geeignet?

Familien mit Kindern aller Altersgruppen sowie Mehrgenerations-Reisen sind klar eine der Hauptzielgruppen des neuen Schiffs. Generell gibt es aber so viel zu sehen und zu erleben, dass sich das Schiff für alle Arten von Menschen eignet, die nicht generell ein Problem mit grossen Schiffen haben und sich gerne in einer komfortablen, sicheren und dennoch stets wechselnden Umgebung bewegen. Aber Vorsicht: es hat seinen Preis! Und trotz vieler inkludierter Leistungen kommen je nachdem noch erhebliche Zusatzkosten für Extras wie Getränke, Spezialitäten-Restaurants, Landausflüge, Shopping und Trinkgelder hinzu.

Lässt sich dieses hohe Preisniveau aus Ihrer Sicht rechtfertigen oder zumindest erklären?

Rational rechtfertigen vielleicht nicht unbedingt, ausser, dass hier das Gesetz von Angebot und Nachfrage spielt. Erklären kann man es durch den von Ihnen eingangs angesprochenen Hype um das Schiff und die dadurch ausgelöste Erwartungshaltung. Generell erzielen neue Schiffe immer höhere Raten, vor allem wenn es sich, wie im Fall der Icon, um einen gänzlich neuen Prototypen handelt. Auf einem Schiff der Volumenklasse sah man ein solch hohes Preisniveau, das je nach Reisezeit, Buchungsstand und Suiten-Kategorie ausgewachsenes Luxusklassenniveau erreicht, aber noch nie. Wenn man sich allerdings das gegenwärtige exorbitante Preisniveau in Miami oder gar Miami Beach für Hotels, Restaurants und dergleichen vergegenwärtigt, dann ist eine siebentägige Kreuzfahrt mit der Icon of the Seas schon fast wieder ein Schnäppchen.

Der Schweizer Thomas P. Illes gehört zu den renommiertesten Kreuzfahrt-Experten der Welt. Bild: Rita Röösli

Nochmals zum Thema Menschenmassen: In einem Ihrer früheren Interviews hatten Sie die Möglichkeit skizziert, dass viele Menschen das Schiff in den Häfen aufgrund seiner vielen bordeigenen Möglichkeiten gar nicht mehr verlassen und schwimmenden Megaresorts wie die Icon of the Seas womöglich das Overtourism-Problem entschärfen könnten.

Wirklich zu entschärfen ist das Overtourism-Problem nur, wenn insgesamt weniger gereist wird, die Besucherströme besser gelenkt oder gewisse Hotspots ganz gemieden werden. Bevor dieses im Moment noch eher wenig wahrscheinliche Szenario eintrifft, erachte ich schwimmende Destinationen wie die Icon of the Seas tatsächlich als eine Möglichkeit, gewisse Kreuzfahrtdestinationen zu entlasten. Dem Schiff als eigenständige Destination wird auch in der Routenplanung Rechnung getragen: von den abwechselnd in die östliche und westliche Karibik führenden siebentägigen Touren entfallen jeweils ein bis zwei Tage auf See sowie ein Aufenthalt auf der reederei-eigenen Freizeitinsel Perfect Day at Coco Cay auf den Bahamas. Viele Destinationen sind es also nicht, die angefahren werden. Aber klar: Jedes neue Schiff generiert auch potenziell neue Besucherinnen und Besucher.

Werden wir demnächst noch grössere Schiffe sehen?

Royal Caribbean will nicht die Schiffsgrösse, sondern die Kundenzufriedenheit in den Vordergrund stellen. Punkto Schiffsgrösse scheint momentan der Peak erreicht zu sein. Des Weiteren fragt sich, inwiefern noch grössere Schiffe in Sachen wie Hafenlogistik, Fluganbindungen, Sicherheitsbelange und nicht zuletzt gesellschaftlicher Akzeptanz wirklich Sinn machen. Aktuell steht als nächstes eher ein Neubau als Ersatz für die mittlerweile in die Jahre gekommenen kleineren Flottenmitglieder der Reederei durch moderne und umweltfreundlichere Einheiten an.

Stichwort Umwelt: Wie steht es damit bei der Icon of the Seas?

In den USA ist das Umweltbewusstsein nach wie vor noch nicht allzu ausgeprägt, obwohl sich da mittlerweile zumindest ansatzweise ebenfalls ein Umdenken abzeichnet. Bei der Icon of the Seas sind in Bezug auf die Thematik des Klimawandels vor allem zwei Probleme auszumachen.

Welche?

Zum einen wird neu Flüssigerdgas (LNG) als Treibstoff genutzt. Dieser ist zwar deutlich emissionsärmer als der vorher verwendete Marinediesel oder gar Schweröl. Dennoch handelt es sich hierbei um einen fossilen Kraftstoff. Zudem sehen wir uns im Umgang mit LNG auch mit dem Problem des noch nicht zufriedenstellend gelösten Methanschlupfs konfrontiert. Bei den verschiedenen Prozessen im Umgang mit LNG entweicht noch relativ viel klimaschädliches Methan, was die grundsätzlich positivere Umweltbilanz ebenfalls schmälert. Somit kann ein LNG-Antrieb nur als Brückentechnologie gelten. Die fortschrittlichen Motoren der Icon könnten in Zukunft auch klimaneutrales synthetisches oder Bio-Gas nutzen. Solche Kraftstoffe sind aber noch bei weitem nicht überall ausreichend verfügbar und werden es auch noch länger nicht sein. Dafür soll das Schiff in absehbarer Zeit mittels Brennstoffzelle einen Teil des Energiebedarfs des Hotelbetriebs unterstützen, und die Abwärme der bordeigenen Müllverbrennungsanlage wird ebenfalls für den Schiffsbetrieb genutzt. Es ist also einiges an innovativer Umwelttechnik vorhanden, was einmal mehr illustriert, dass moderne Passagierschiffe durchaus als Wegbereiter für eine sauberere Hochseeschifffahrt generell dienen können.

Und das zweite Problem?

Dieses haben wir aus europäischer Sicht mit der notwendige Fluganreise nach Miami, welche die CO2-Bilanz nochmals erheblich verschlechtert. Da müssen wir nichts schönreden. Denn auch die Luftfahrt hat es verschlafen, rechtzeitig auf den Klimawandel zu reagieren. Die vielgepriesenen Sustainable Aviation Fuels (SAF) sind im Moment nur ein Tropfen auf den heissen Stein.

Wäre es demnach denkbar, dass das Schiff dereinst mal Abfahrten ab Europa, zum Beispiel Barcelona, anbietet?

In den letzten Jahrzehnten hiess es anfänglich bei jeder neuen grossen Schiffsklasse von Royal Caribbean, das Schiff sei zu gross für den europäischen Markt. Bekanntlich wurden wir jedes Mal eines Besseren belehrt. Es würde mich deshalb nicht wundern, wenn im Zuge der kommenden beiden Schwesterschiffe der Icon-Klasse eines der Schiffe zeitweise tatsächlich in Europa, wohl am ehesten im Mittelmeer, eingesetzt wird.

Wie viele Schwesterschiffe der Icon of the Seas wird es geben und wann sollen sie in Fahrt kommen?

Zwei weitere Schiffe sind bei der Bauwerft Meyer im finnischen Turku bestellt und mittlerweile auch im Bau. Die Star of the Seas soll im Sommer 2025 in Dienst gestellt werden, ein noch namenloses drittes Schiff soll 2026 folgen. Spätestens dann dürften sich auch die Preise für eine Reise auf einem dieser Icon-Schiffe auf einem erträglicheren Niveau einpendeln.