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Björn Bender ist seit rund einem Jahr CEO von Rail Europe und kämpft darum, Bahnfahren in Europa einfacher zu machen. Bild: Rail Europe

«Es ist eine Schrebergarten-Kultur, in der jeder seine Parzelle kultiviert»

Reto Suter

Angeheizt durch die Klimadebatte erleben Bahnreisen einen Boom. Björn Bender, CEO von Rail Europe, äussert sich im Interview mit Travelnews zu den Herausforderungen, die das schnelle Wachstum mit sich bringt und erklärt, weshalb grenzüberschreitende Reisen immer noch sehr kompliziert sind.

Rail Europe hat eine fast 100-jährige Tradition. Gross geworden ist es als Unternehmen, das europäische Bahntickets an Reiseanbieter und Passagiere aus Übersee verkaufte. Bis vor anderthalb Jahren war Rail Europe eine Tochtergesellschaft der französischen Eisenbahngesellschaft SNCF und der SBB. Mittlerweile ist das Unternehmen unabhängig.

Vor knapp einem Jahr stiess Björn Bender als CEO zu Rail Europe. Zuvor hatte er unter anderem für die SBB und die Deutsche Bahn gearbeitet. Bender, der mit seiner Familie in Bern lebt, will mit Rail Europe jetzt auch im europäischen Markt eine zunehmend wichtige Rolle einnehmen.

Herr Bender, wohin führte Ihre letzte Zugreise?

Björn Bender: Meine letzte Reise im Zug führte mich von meinem Wohnort Bern nach Paris in die Firmenzentrale von Rail Europe. Meine letzte spektakuläre Zugreise erlebte ich Mitte Oktober in China: Ich fuhr von Peking die rund 1200 Kilometer nach Schanghai. Das hiess: vier Stunden Reisezeit, eine Höchstgeschwindigkeit von 360 Kilometern pro Stunde und bestes Essen. Ich kann das allen nur empfehlen. Das Erlebnis ist besser, als in der Business Class zu fliegen. Diese Reise zeigte eindrücklich, auf welchen Strecken es sich lohnt, mit der Bahn statt mit dem Flugzeug zu reisen. Zwischen Peking und Schanghai sind nur noch etwa halb so viele Flüge unterwegs wie vor zehn Jahren. Das beweist: Ein gutes Angebot auf der Schiene führt zu weniger Flugverkehr.

Ist Asien in dieser Hinsicht weiter als Europa?

Europa hinkt in diesem Bereich weit hinterher. Chinas Infrastruktur umfasst über 40'000 Schienenkilometer für Hochgeschwindigkeitszüge. Das ist beeindruckend. Natürlich kann man die chinesischen Gegebenheiten nicht mit denjenigen in Europa vergleichen. Dort wird ein bisschen schneller gebaut (lacht), was zweifellos nicht nur Vorteile mit sich bringt. Was man auf jeden Fall sieht in China: Dass man das Bahnangebot innert relativ kurzer Zeit revolutionieren und dadurch massiv mehr potenzielle Kundinnen und Kunden ansprechen kann.

«Wir wollen Bahnfahren einfacher machen»

Wenn Sie ein Freund nach einem Tipp für eine besonders tolle Zugreise fragt: Was empfehlen Sie ihm?

Da würde ich mich für die Strecke von Bern nach Montreux entscheiden, mit dem herrlichen Ausblick auf den Genfersee. Das ist neben den klassischen Panoramastrecken das spannendste für mich. Auf dieser Strecke bin ich auch regelmässig mit Freunden und Familie unterwegs, um ihnen die schöne Schweiz zu zeigen.

Rail Europe hat seine Ursprünge in Übersee. Wie positioniert sich das Unternehmen aktuell?

Wir sind die globale Plattform für Bahnfahren in Europa. Das heisst: Wir bringen als Dienstleister Angebot und Nachfrage zusammen. Wir haben über 200 europäische Eisenbahngesellschaften auf unserer Plattform. Über 15'000 Business-Partner nutzen unsere Angebote. Unser Ziel ist es, Bahnfahren einfacher zu machen. Gerade, wenn es um grenzüberschreitenden Bahnverkehr geht, gibt es noch viel zu tun. Es ist alles viel zu kompliziert.

Weshalb ist das so?

Das hat sehr viel mit der europäischen Bahn-Historie zu tun. Wir leben in einer Schrebergarten-Kultur, in der jeder seine eigene Parzelle kultiviert. Leider gibt es nach wie vor keinen einheitlichen europäischen Bahnmarkt. Er ist weiterhin stark von den unterschiedlichen Ländern und deren Bedürfnissen geprägt. Wir reden von überwiegend staatlichen Eisenbahngesellschaften, die sich über viele Jahrzehnte ihre Welt aufgebaut haben – einerseits bei Infrastruktur und Rollmaterial, andererseits beim ganzen Buchungsprozess, beim Ticketing und bei vielen unterschiedlichen Tarifen und Regeln.

«Niemand würde ein Swiss-Ticket auf der Website von British Airways kaufen»

Spüren Sie hier den Willen für Veränderungen, um alles einfacher und übersichtlicher zu gestalten?

Ich bin jetzt 20 Jahre in der Mobilität dabei. Wir haben zu lange darüber diskutiert, wie es sein müsste. Erst jetzt merkt man langsam, dass sich wirklich etwas tut. Schnell gehen, wird es aber auch jetzt nicht. Dafür sind die verschiedenen nationalen Interessen immer noch viel zu gross. Aber immerhin: Es tut sich was und zwar schneller als in den letzten zwei Jahrzehnten. Viel ist derzeit durch die die Standardisierung auf EU-Ebene getrieben, wobei in diesem Fall auch die SBB Teil davon ist.

Ist es denn überhaupt im Interesse von Rail Europe, das System zu vereinheitlichen und zu vereinfachen? Damit würde ja ein grosser Teil Ihres Geschäftsmodells wegbrechen?

Wenn wir von der perfekten Welt sprechen, in der jede europäische Bahngesellschaft alle europäischen Tickets verkaufen könnte, dann bräuchte es uns womöglich tatsächlich nicht mehr (lacht). Aber erstens entscheidet dies der Kunde, ich glaube fest daran, dass das Kundenverhalten für inter- oder multinationale Auskünfte und Buchungen immer mehr zu neutralen Plattformen gehen wird, wie wir das im Flugverkehr gewohnt sind. Wir würden ja auch ein Swiss-Ticket nicht auf der Website von British Airways kaufen. Und zweitens sind wir von dieser perfekten Welt leider noch meilenweit entfernt. Wir haben zwei Kernaufträge: Einerseits müssen wir ÖV-affinen Menschen die grenzüberschreitenden und internationalen Angebote in Europa schmackhaft machen – als Alternative zum Flugzeug. Andererseits – und das ist noch viel wichtiger – müssen wir Menschen für den öffentlichen Verkehr begeistern, die aktuell nicht mit dem ÖV unterwegs sind, weil sie ihn als zu komplex und zu wenig bequem empfinden.

Die Erneuerung des Rollmaterials konnte mit der stark gestiegenen Nachfrage zuletzt nicht Schritt halten. Wie sieht es aktuell aus?

Erst einmal ist es ja schön, dass die Nachtzüge ein Revival erleben und sehr stark nachgefragt werden. Jetzt sind wir an einem ganz spannenden Punkt – mit einer riesigen Kluft zwischen Anspruch und Wirklichkeit. Einerseits haben die Nachtzüge das Potenzial für etwas sehr Grosses, wenn durch sie immer mehr Menschen von Auto und Flugzeug auf die Bahn umsteigen. Das dürfte aber noch länger dauern, weil sich das Nachtzug-Angebot derzeit in homöopathischen Dosen weiterentwickelt. Schön ist, dass die neue Art von Reiseerlebnis durch neue Nachtzüge jetzt auch greifbar wird, beispielsweise durch den Nightjet  der ÖBB (Travelnews berichtete) oder auch den European Sleeper zwischen Amsterdam und Berlin.

Von welchen Passagierzahlen auf dem europäischen Nachtzug-Netz sprechen wir denn, die mittel- bis langfristig realistisch sind?

Aktuelle Studien zeigen, dass in einigen  Jahren bis zu 20'000  Menschen pro Nacht mit Nachtzügen in Europa befördert werden können. Das klingt womöglich nach viel, ist aber immer noch sehr wenig, wenn wir uns vergegenwärtigen, wie viele Reisende tatsächlich unterwegs sind.

«Die Schweiz ist ein Vorzeigebeispiel»

Auch mit der Pünktlichkeit klappt’s nicht wie gewünscht. Häufig wird dabei mit dem Finger auf die Deutsche Bahn gezeigt. Wie sehen Sie die Situation?

Fakt ist: Deutschland hat in den vergangenen 50 Jahren massiv zu wenig in die Bahn investiert. Das macht sich jetzt bei Infrastruktur und Rollmaterial bemerkbar. Momentan tut die Deutsche Bahn (DB) in diesem Bereich so viel wie nie zuvor. Das hat entsprechend viele Baustellen zur Folge und bringt auch weitere Probleme mit sich, die einen direkten Einfluss auf den Fahrplan haben. Die deutsche Unpünktlichkeit ist für jeden besorgniserregend. Aber wenn die DB jetzt nicht investieren würde, wären wir auch in fünf Jahren immer noch gleich weit wie jetzt. Wahrscheinlich werden wir erst in den 2030er-Jahren auf einem Level sein, dass für alle zufriedenstellend ist.

Wie ist die Schweiz aufgestellt?

Die Schweiz ist in dieser Hinsicht ein Vorzeigebeispiel. Die Errungenschaft, mit 200 verschiedenen ÖV-Unternehmen ein einziges Ticket zu schaffen, ist weltweit einzigartig. Diese Lösung hat die Schweiz gemeinsam mit den Kundinnen und Kunden geschaffen. Deshalb ist sie auch so erfolgreich. Hinzu kommt die grosse Innovationskraft im Land. Diese ist nicht nur im europäischen, sondern auch im weltweiten Vergleich herausragend.

Das Jahr 2023 neigt sich langsam dem Ende entgegen. Wie läuft es für Rail Europe, verglichen mit dem Vorjahr und 2019?

Zur Einordung: Der europäische Bahnmarkt wächst pro Jahr um rund 15 Prozent, grenzüberschreitend sogar um über 20 Prozent. Ich bin sehr zufrieden, wie es bei uns läuft. Wir sind aktuell 60 Prozent über dem Vergleichszeitraum 2022. Wir sind davon überzeugt, dass wir mit den angestossenen Aktivitäten auch in den kommenden Jahren prozentual stärker wachsen können als der Gesamtmarkt in Europa.

Welche Strecken und Tickets werden besonders stark nachgefragt?

Verkaufsschlager sind generell die Pässe, etwa der Interrail beziehungsweise Eurail Pass oder auch der Swiss Travel Pass. Sie haben Wachstumsraten wie nie zuvor. Daneben muss man zwischen zwei Kundengruppen unterscheiden. Menschen, die erstmals mit dem Zug durch Europa reisen, sind vor allem auf den klassischen Routen unterwegs, beispielsweise aus der Schweiz nach Paris oder nach München. Auf der anderen Seite gibt es die Rückkehrer, die die Hotspots in Europa wie etwa Paris, Rom oder London schon sehr gut kennen. Sie wählen für ihre Reisen kleinere Destinationen aus, beispielsweise Vorarlberg, Ungarn oder auch vermehrt nordische Länder.