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Das Boarding ist häufig ein Frusterlebnis: für Passagiere, Crew und Airlines. Bild: TN

Wie die Airlines den Boarding-Horror entschärfen wollen

Reto Suter

Für Fluggesellschaften ist der Boarding-Prozess ein Ärgernis, weil er viel kostbare Zeit in Anspruch nimmt. Auch für Passagiere und Crew-Mitglieder wird das Prozedere häufig zur Nervenprobe. Jetzt schicken sich immer mehr Airlines an, das Boarding zu optimieren.

«Die Crew kämpft oft mit Übergepäck, Zeitmangel und dem Druck, die korrekte Zahl der Passagiere zu ermitteln», sagt Jörg Berlinger. Er ist Sprecher von Kapers, der Gewerkschaft des Kabinenpersonals und betont, dass das Boarding für die Cabin Crew ein intensiver und sehr bedeutender Moment für einen reibungslosen Ablauf des Fluges sei.

«Die Warterei vor dem Abflug kann extrem unangenehm sein – gerade für Menschen, die ohnehin nicht gerne fliegen oder sogar Flugangst haben», erklärt Bettina Schindler. Sie betreibt in Zürich eine Praxis für Psychotherapie und beschäftigt sich als Verhaltenstherapeutin seit über 20 Jahren mit dem Thema Flugangst und allen Aspekten der Fliegerei, die darauf einen Einfluss haben. Schindler gibt zu bedenken, dass laut Studien rund 15 Prozent der Menschen unter Flugangst leiden und über 30 Prozent der Leute mit einem mulmigen Gefühl in den Flieger steigen.

Laut Verhaltenstherapeutin Bettina Schindler kann das Boarding für Menschen, die nicht gerne fliegen, zum Alptraum werden. Bild: zVg

Der Tenor ist klar und (fast) alle, die schon einmal geflogen sind, würden es wohl bestätigen: Das Boarding gehört beim Reisen definitiv nicht zu den Lieblingsdisziplinen.

Die Airlines verlieren viel kostbare Zeit

Nicht nur für die Passagiere und die Crew ist das Boarding äusserst unangenehm, auch die Airlines können dem Prozedere nichts Positives abgewinnen. Es kostet die Fluggesellschaften viel Zeit und damit auch Geld. Laut Experten dauert das Boarding durchschnittlich rund 40 Minuten bei eher kleinen Flugzeugen und rund 50 Minuten bei den grossen Maschinen. Zumindest einen Teil dieser Zeit wollen die Airlines sinnvoller nützen und brüten über Ideen, wie sich der Prozess beschleunigen liesse.

«Wenn es gelingt, in jedem Turn ein paar Minuten zu sparen, können wir mehr Flüge abwickeln», sagt Andrew Watterson, Chief Operating Officer von Southwest Airlines, im «Wall Street Journal». «Untersuchungen haben ergeben, dass Engpässe beim Einsteigen die Abfertigungszeiten am stärksten beeinträchtigen», erklärt Massoud Bazargan, Professor an der Embry-Riddle Aeronautical University in Daytona Beach. Wenn Passagiere ihren Sitzplatz nicht sofort finden oder verzweifelt nach genügend Stauraum in den Gepäckfächern suchen, summieren sich die Verzögerungen innert kürzester Zeit.

Naheliegende und verrückte Lösungsansätze

Um die Situation zu entschärfen, gibt es jetzt auf einzelnen Flügen von Southwest Airlines testhalber freie Sitzplatzwahl – nach dem Credo «First come, first served». Zudem sind grössere Gepäckfächer geplant. Auch andere Massnahmen, die das Boarding beschleunigen könnten, sind am Flughafen von Atlanta im Rahmen eines Versuchs auf dem Prüfstand.

Unter anderem ist ein Mitarbeiter von Southwest Airlines an den Gates unterwegs und macht Passagiere darauf aufmerksam, wenn sie zu grosse Taschen oder Koffer dabei haben. Zudem informieren Bildschirme über den genauen Ablauf des Boardings. Die Fluggesellschaft belässt es aber nicht bei diesen naheliegenden Massnahmen, sondern geht noch einen Schritt weiter. Sie testet beispielsweise verschiedene Teppichfarben als Bodenbelag und spielt in der Passagierbrücke laute Musik mit hohem Rhythmus ab. Dadurch sollen sich die Fluggäste schneller fortbewegen.

Verhaltenstherapeutin Bettina Schindler ist zwiegespalten, wenn sie von diesen Lösungsansätzen hört. «Dass laute, schnelle Musik hilft, damit die Leute schneller einsteigen, bezweifle ich», sagt sie. «Möglicherweise wäre es sinnvoller, sanfte Musik abzuspielen, damit sich die Passiere in diesen nervenaufreibenden Momenten beruhigen.» Lobenswert findet Schindler das Bestreben, besser zu informieren. «Das ist das A und O, damit sich die Fluggäste wohl fühlen.»

Künstliche Intelligenz als Ausweg aus dem Dilemma?

Die Swiss will den Boarding-Prozess mit Hilfe von Künstlicher Intelligenz (KI) revolutionieren. Zusammen mit einem externen Partner führt die Airline seit April einen dreimonatigen Test durch. Dabei werden die Passagiere mittels künstlicher Intelligenz gezählt. Mit der Digitalisierung des Boardings will die Airline die Sicherheit erhöhen und die Kabinenbesatzung entlasten.

Jörg Berlinger erhofft sich durch KI eine Zeitersparnis. Bild: Kapers

Kapers begrüsst den Test für eine neue Zählmethode, wie Sprecher Jörg Berlinger gegenüber Travelnews sagt. «Wir erhoffen uns, dass weniger oft nachgezählt werden muss und die Anzahl schon beim ersten Mal korrekt ist», sagt er. Ein Nachzählen scheine für Aussenstehende eine kleine Sache zu sein, binde aber Ressourcen zu einen kritischem Zeitpunkt, wenn beispielsweise ein Abflugfenster (Slot) eingehalten werden sollte. «Wenn der KI-Versuch beim Zählen erfolgreich ist, kann sich die Crew künftig mit voller Aufmerksamkeit wichtigen anderen Aufgaben widmen», so Berlinger.

Für ihn ist klar: Wenn alle Passagiere die wichtigsten Grundsätze befolgen würden, wäre der Boarding-Prozess schon heute deutlich entspannter – ganz ohne zusätzliche Massnahmen. «Helfen würde einerseits, wenn alle Fluggäste nur mit wirklich kleinem, leichten Gepäck an Bord kämen», erklärt er. «Handgepäck sollte man alleine tragen und korrekt im Gepäckfach verstauen können.» Andererseits sei auch wichtig, dass man schon beim Einsteigen wisse, wo man sitze und nicht zuerst nach seinem Platz suchen müsse.

Die Lösungsansätze des Insiders klingen simpel. Und dennoch: Die Passagiere beim Boarding umzuerziehen, scheint ein langer Weg zu sein – ohne die Gewissheit, eines Tages erfolgreich am Ziel anzukommen.