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Am Absatz von Italien scheint die Zeit stehen geblieben zu sein. Bilder: Silvia Schaub (2), Fotolia (2)

Die vergessene Ecke Italiens

Silvia Schaub

Wer bis ganz hinunter zum Absatz Italiens reist, wird überrascht sein, wie entzückend altmodisch und entspannt die Menschen im Salento leben, zwischen Adria und Ionischem Meer.

Die Szene könnte in einem Fellini-Film spielen: Vor dem Ristorante Il Girone Dei Golosi in Gallipoli flanieren die Besucherinnen und Besucher, bevor sie in die Altstadt mit ihrem Gässchen-Labyrinth einbiegen. Tutta la famiglia hat sich herausgeputzt – die Väter im besten Anzug, die Mütter im hübschen Rock, auf Stöckelschuhen und frisch frisiert, die Kinder im weissen Hemd oder Spitzenröckchen.

Beschwingt und fröhlich lärmend, geht es zuerst in die Kirche, danach in eines der zahlreichen Restaurants im Ort. Nur die paar Touristen – in Flip-Flops, Jeans und Rucksack – stören das idyllische Bild von Italien anno dazumal.

Nicht nur in Gallipoli, dessen Centro storico sich auf einer Felseninsel befindet, zeigt sich Italien im Salento noch so, wie es dem Klischee entspricht: fröhlich, herzlich und zauberhaft altmodisch. Die Zeit scheint in dieser Ecke Italiens zwischen Adria und Ionischem Meer stillzustehen. Alte Städtchen mit viel Patina, entspannte Menschen, gute Weine, vorzügliches Essen – und weitgehend unentdeckt vom Massentourismus.

Vom Massentourismus noch verschont: die Piazza Salandra im Städtchen Nardo.

«Im Salento geht alles ein bisschen lento», erklärt unser Ferienwohnungsvermieter Ramón Volkart. «Die Leute haben noch Zeit. Zeit für einen Schwatz, Zeit für lange Siestas, Zeit für feines Essen und Weine.»

Der Schweizer ist erst kürzlich mit seiner Frau Linda Rey vom Aargau nach Galàtone ausgewandert und bietet nun Führungen für Touristen an (www.salentosole.ch).

Wir treffen uns in der Caffetteria Mirò, dem Treffpunkt des Städtchens. Die Männer stehen vor der Bar oder drinnen am Tresen, diskutieren lautstark und trinken un caffè. Nur ein paar Schritte entfernt, ist gerade Samstagsmarkt. Ramón führt uns durch die Stände: Oliven, Taralli (Teigkringel aus dem Salento), Käse, Wurstwaren, frische Fische und Schuhe und Nippes, so weit das Auge reicht.

Bei Ramóns Lieblingshändler Matteo decken wir uns mit frischem Gemüse ein, damit wir gestärkt auf Erkundungstour gehen können. Galàtone ist dazu der perfekte Ausgangspunkt.

Bijous hinter Mauern

Später fahren wir über holprige Strassen durch das weite, flache Land, kommen vorbei an rostroten Feldern, typischen Trullis (Rundhäuser aus Steinen) und endlosen Olivenhainen hinter Trockensteinmauern. Silbrig grün schimmern die kleinen Blätter der oftmals bizarr gekrümmten Bäume. Da und dort verstecken sich hinter Mauern weiss gekalkte Masserien, herrschaftliche Gutshäuser, die einst gegen die Überfälle der Sarazenen und Türken gebaut wurden. Heute beherbergen sie oft kleine Hotelbetriebe oder Ferienwohnungen.

Die besten Jahre liegen hinter Santa Maria al Bagno – heute verfügt das kleine Seebad über einen speziellen Charme.

Es geht Richtung Meer, nach Santa Maria al Bagno, einem kleinen Seebad, das seine besten Jahre längst hinter sich hat, aber gerade dadurch einen speziellen Charme verströmt. Und schon wieder erleben wir einen dieser Fellini-Momente: Am Sandstrand haben sich ein paar italienische Familien niedergelassen, Kinder rennen kreischend zwischen Kühltaschen und Luftmatratzen herum, daneben liegen die Mammas schnatternd auf den Liegestühlen, während die Zigaretten rauchenden Männer ein paar Meter entfernt dem Transistor-Radio lauschen und sich über die aktuellen Spielzüge ihrer Lieblings-Fussballmannschaft austauschen.

Wo Petrus ankam

Wir fahren der Küstenstrasse entlang vorbei an verwaisten Verkaufsständen und Dörfchen – auf der einen Seite die nun hügelige Landschaft, auf der anderen das türkis schillernde Meer – bis wir an der südlichsten Spitze des Stiefelabsatzes landen: Santa Maria di Leuca. Als Finibus terrae, Ende der Welt, wird dieser Punkt auch bezeichnet.

Hier soll Petrus an Land gegangen sein, um das Evangelium zu verkünden. Deshalb müsse jeder Christ einmal im Leben diesen Ort besuchen, heisst es.

Nun denn, der Platz bietet in der Tat einen grandiosen Blick aufs Meer, die Basilica Santa Maria de Finibus Terrae ist ebenso sehenswert. Don Giovanni, der vor den Beichtstühlen auf Kundschaft wartet, vertreibt sich währenddessen die Zeit auf seinem iPhone – auch wenn solcherlei zu unterlassen ist, wie auf einem Verbotsschild zu lesen ist. Für Priester gelten eben andere Regeln.

Nach diesem Ausflug geniessen wir die Ruhe in unserer temporären Bleibe in der Altstadt von Galàtone gleich neben der Kirche San Giovanni Battista e Maria Immacolata. Die Wohnung mit den hohen Bogendecken und den antiken Wandmalereien ist in einem alten Palazzo untergebracht und im Salento-Style mit ausgesuchten Designer-Möbeln eingerichtet worden. Atemberaubend ist der Blick von der Dachterrasse über die Stadt. Galàtone ist eine Perle des Barocks, weitestgehend unentdeckt von Touristen und von ausländischen Investoren.

An so manchem Haus hängt eine Tafel mit der Aufschrift: «Vendesi» – zu verkaufen. Anders in Nardò, das nur wenige Kilometer von Galàtone entfernt liegt und mittlerweile als Hotspot für Millionäre gilt. Nicht nur, weil sie Land, Leute, Weine und das Essen lieben, sondern auch, weil der italienische Fiskus mit einer Pauschalbesteuerung für reiche Ausländer lockt. Flaniert man durch Nardò, spürt man dennoch wenig davon. Zwar sind die Häuserzeilen in den Gässchen grösstenteils restauriert, verhindern aber weitgehend den Einblick in die Innenhöfe.

Auf der Piazza Salandra frönt man dem Dolcefarniente wie eh und je, sitzt schon in der Früh bei einem Kaffee und einem Pasticciotto, dem Gebäck dieser Gegend, oder geniesst ein Glas Primitivo zum Apéro.

Die Hauptattraktion im Salento ist unbestreitbar Lecce, mit 100 000 Einwohnern die grösste Stadt der Provinz. Man nennt die Stadt auch das «apulische Florenz», wegen ihrer barocken Fassaden, geschmückt mit Putten, Rosetten und allerlei Fabeltieren.

Die barocken Fassaden machen Lecce zum apulischen Florenz.

Die Altstadt ist ein Gesamtkunstwerk aus hellem Sandstein, der pietra leccese. Prächtige Torbögen schmücken den Eingang zum Centro storico, das mit seinen unzähligen Kirchen und Palazzi, dem römischen Amphitheater, versteckten Plätzen, mittelalterlich verworrenen Gassen ein Schmuckstück ist. Der Corso Vittorio Emanuele II, die zentrale Geschäftsstrasse der Altstadt, ist seit einigen Jahren eine Fussgängerzone, durch die nun selbst in der Nebensaison Menschenscharen flanieren.

Hier gibts gesunde Pizza


Bald wird uns das Gewusel zu viel, und wir kehren nach Galàtone zurück, wo wir uns bei Carmela und Gigi zur Stärkung mit einer gesunden Pizza verwöhnen lassen. Die Wirte, die auch die empfehlenswerte «Braceria Gustavo» führen, wollen mit ihrem neuen Lokal «Il convitto» eine Marktnische erobern.

Dort backen sie köstliche Pizze, die mit einem Teig aus frischen Zutaten und selbst gemahltem Mehl hergestellt werden. Die Pizze schmecken wirklich vorzüglich. Marco, ein junger Einheimischer, setzt sich an unseren Tisch und will wissen, wie es uns in «dieser vergessenen Ecke Italiens» gefalle.

Die Halbinsel im tiefen Süden des Landes ist in der Tat eine andere Welt – bezaubernd und eben unentdeckt. Marco spricht über das Salento lakonisch vom Wurmfortsatz Italiens, den seit je niemanden wirklich interessiere. Fast wünscht man sich, es bleibe so.