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Warten in Zagreb. Mit einigen Stunden Verspätung ruckelt der Zug los. Bilder: Christian Bauer

Der Nachtzug ins Glück

Christian Bauer, Tasari Atelier

Los gehts mit vollgepacktem Rucksack von der Schweizer Haustüre bis nach Istanbul: Dazwischen liegen tausende Schienenkilometer entlang des historischen Orientexpress. Eine Zugreise mit interessanten Begegnungen, kuriosen Schlafwaggons und frittierten Schnitzeln.

Mirko hat den wichtigsten Job vom gesamten Bahnhof – behauptet er. Sein Werkzeug: ein Hämmerchen. Er klopft an den Zugrädern und lauscht, ob sich nicht irgendwo ein Riss eingeschlichen hat. «Pling, plong, pling, plong» weht es durch den nächtlichen Belgrader Bahnhof. Gelbliches Licht flackert, Reisende schleifen Rollkoffer über den löchrigen Boden, Katzen jammern. Mirko scheint zufrieden mit dem altersmüden Nachtzug, der sich bis in die ferne Bulgarische Hauptstadt Sofia schleppen soll.

Zaghaft ruckeln wir aus dem Bahnhof, als ob jede Weiche dem Oldtimer den Gnadenstoss versetzen könnte. Neun Stunden soll die Fahrt dauern – in Wirklichkeit sind es knapp zwölf. Fahrpläne sind hier im tiefsten Balkan so launisch wie altersschwache Kuckucksuhren.

Lang gehegter Traum

Ich erfülle mir einen lang gehegten Traum: eine Reise mit dem Zug von der Schweiz nach Istanbul auf der Strecke des Orientexpress. Der legendäre Luxuszug verband ab 1883 Paris direkt mit der Stadt am Bosporus. Der Simplon-Orient Express streifte die Schweiz und führte über Mailand, Venedig, Ljubljana, Zagreb, Belgrad über Sofia schliesslich ins ehemalige Konstantinopel. Dieser Route will ich folgen.

Den Orient-Express gibt es nicht mehr. Wer heute die Strecke zurücklegen will, muss sie in einzelne Abschnitte unterteilen.

Bewaffnet mit einem Interrail-Ticket, das für ganz Europa gilt, gehts über die Modestadt Mailand nach Venedig, die «geilste Stadt der Welt», wie zwei Amerikaner entzückt auf der Rialto-Brücke hauchen. Stimmt, die Lagunenstadt ist definitiv ein Highlight entlang des Weges. Doch jeder Stopp verströmt einen besonderen Reiz: In den Städten Ljubljana und Zagreb lebt noch ein Hauch österreichischer K-und-K-Monarchie, in Belgrad wummern Disco-Schiffe auf der Donau und Bulgariens Sofia verströmt immer noch die Sovjet-Zeiten. Spätestens jenseits vom kroatischen Zagreb vermischt sich das Abendland allmählich mit dem orientalischen Osten. Fremdartige Gewürze mischen sich ins Essen, die Musik klingt wehmütiger und die Architektur spielt verschnörkelter.

Ein versöhnliches Anfreunden mit einer fremden Kultur

Zugfahren ist ein gemütliches Hineintasten in eine neue Welt. Keine Schocktherapie, wie man es vom Fliegen kennt, sondern ein versöhnliches Anfreunden mit einer fremden Kultur. «Entschleunigung» nennen sich die Zaubertherapien der Wellnessanbieter gegen gestressten Alltag. Zugfahren ist Entschleunigung in den Ferien. Tok-tok, tok-tok, ein immer wiederkehrender Rhythmus.

Klar, diese Form des «Slow Travel» muss man lieben – oder wieder neu entdecken.  Schliesslich konkurrieren insgesamt 45 Stunden Zugfahrt mit  2,5 Stunden Flug. Beim «Interrailen» ist die Fortbewegung nicht notwendiges Übel, sondern Teil des Erlebnisses.

Der Speisewagen, der gesellschaftliche Mittelpunkt

So wie auf der achtstündigen Fahrt von Zagreb nach Belgrad, wo der Speisewagen zum gesellschaftlichen Mittelpunkt der Langzeitfahrer wird. Bei Bier und Zigaretten machen Lebensgeschichten schnell die Runde. Bauarbeiter Kaspar fragt mich, den Fremden, um Rat bei seinen verqueren Frauen-Liebeleien – den Rat lässt er sich ein «pivo», ein Bier, kosten. Auch Restaurantchef Georgi beteiligt sich an der Alltagspsychologie. Wichtiger ist ihm aber, dem Gast aus der Schweiz die kulinarischen Raffinessen der Bordküche vorzuführen.  «Bei uns im Zug werden keine Fertiggerichte mit der Mikrowelle aufgewärmt», schwärmt Georgi. «Alles wird frisch gekocht.»

Auf der Speisekarte finden sich Schnitzel-Variationen und verschiedene Salate. Heute gibt es allerdings nur den Krautsalat. Der schmecke sowieso am besten, behauptet Georgi.

Je weiter wir gen Osten kommen, desto älter werden die Züge. In kindlicher Freude und zur grossen Verwunderung der Mitreisenden knipse ich jedes Detail der Vintage-Züge. Das entgeht auch Lokführer Dano nicht. «Willst du in der Lok mitfahren?» fragt er. «Für 20 Euro?» Wow, welch ein Angebot. Auch in Bulgarien ist das verboten – die Aufbesserung seines kargen Lohns kann er aber gut gebrauchen. Der Geruch von Schmierfett und Schweiss hängt in dem kleinen Raum. Hebel, Schalter, Anzeigen, die Lok ist ein analoger Traum aus einem anderen Zeitalter.

Mehr als 40 Jahre hat die Technik schon auf dem Buckel. Das einzige Zugeständnis an die Moderne sind drei Smartphones, die zwischen den Drehschalter liegen. Sechs Elektromotoren sorgen für die Power, doch wir kommen gerade mal auf 80 km/h. Und wenn die Lok ihren Geist aushaucht? «Die kann ich mit einem Kabel wieder reparieren», sagt Dano stolz. Das ist beruhigend, wenn es mitten in der pechschwarzen Nacht vorbei an funzelig beleuchteten Bahnhöfen durch die balkanischen Weiten geht.

14 Nachtstunden dauert die letzte Etappe von Sofia nach Istanbul. Kein Bett, keine Getränke, stickige Diesel-Luft (irgendwann wurden die E-Loks durch Dieselmaschinen ersetzt). Das stellt die Eisenbahnliebe auf eine harte Probe. Doch ein neuer Mirko pocht mit seinem Hämmerchen an den Rädern. Pling, plong, pling, plong. Und alles wird gut.