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Auf der Arktis-Insel Spitzbergen leben mehr Eisbären als Menschen – Christian Bauer begab sich auf die Spuren der Bären. Bilder: Christian Bauer

Im Reich der Eisbären

Christian Bauer, Tasari Atelier

Wuchtige Gletscher, Polarlichter und Eisbären, die durch die Schneelandschaft trotten: Spitzbergen ist eine grandiose Erfahrung. Zu Besuch am nördlichsten Aussenposten der Welt. Und bei Eisbären, die sich im Nebel verstecken.

Der letzte Aussenposten der Zivilisation ist ein Warnschild mit Eisbär. Die Aussage ist eindeutig: Wer sich in die eisigen Weiten Spitzbergens hinauswagt, landet vielleicht im Magen eines Eisbären, dem gefährlichsten Raubtier der Welt. Die Gefahr ist real. Auf der Arktis-Insel leben mehr Bären als Menschen. 3500 Exemplare sollen es sein bei etwa 2600 Einwohnern. Klar, dass jeder der jährlich etwa 80’000 Touristen den König der Arktis vor die Kameralinse bekommen möchte. Mir geht es ebenso: Ich träume von dem perfekten Eisbären-Shot.

Weiter nördlich wohnt kein Mensch

Das Insel-Archipel Spitzbergen, das etwa eineinhalbmal grösser ist als die Schweiz, ist das nördlichste bewohnte Gebiet der Welt. Von hier sind es nur noch 1000 Kilometer bis zum Nordpol. Die Inselhauptstadt Longyearbyen liegt auf dem 78. Breitengrad – auf gleicher Höhe hat es im Rest der Welt nur Eis und Ödnis. Doch hier gibt es Hotels, Kneipen, eine Brauerei, eine Einkaufsstrasse und sogar eine Universität. Das verstreute Dorf mit etwa 1800 Einwohnern hat eine verblüffend gute Infrastruktur – so bequem kommt man sonst nirgends ins Nordpolargebiet.

Das liegt allerdings nicht am Tourismus, sondern am Kohlebergbau. Seit etwa hundert Jahren wird aus dem Permafrostboden das Schwarze Gold herausgemeisselt. Wirtschaftlich ist das Unsinn, hier geht es um Politik. Norwegen und Russland markieren damit ihre Präsenz im Nordpolarmeer, wo grosse Vorkommen an Gas und Öl vermutet werden.

Spitzbergen ist ein politisches Unikum. Dass Norwegen und Russland hier gleichzeitig Kohle fördern, liegt an dem Spitzbergenvertrag von 1920. Offiziell wird die Inselkette von Norwegen verwaltet, doch alle 41 unterzeichnenden Nationen dürften hier Rohstoffe abbauen und ohne bürokratische Hürden ein Business eröffnen.

Das nutzte auch der Schweizer Marcel Schütz, der hier seit sieben Jahren Touren anbietet. Zusammen machen wir uns von Longyearbyen auf dem Weg ins russische Bergarbeiter-Nest Barentsburg. Die etwa 50 Kilometer lange Strecke bequem per Auto zurücklegen? Fehlanzeige. Nach Barentsburg führt kein Landweg. Insgesamt gibt es auf der Insel nur 60 Kilometer Strassen für Kohle-Laster – alle Dorfpisten eingerechnet. Sobald man die drei bewohnten Siedlungen verlässt, bewegt man sich per Boot, Schnee-Scooter oder Hundeschlitten fort. Selbst kurze Strecken fühlen sich hier wie eine Nordpolar-Expedition an.

Die Landschaft ist berauschend

So auch unsere Bootsfahrt über den Isfjorden. Trotz eisiger Temperaturen stehe ich auf der Laderampe und berausche mich an einer Landschaft, die sich mit nichts vergleichen lässt, was man aus der Heimat kennt. Wie Dinosaurier-Zähne erheben sich rostbraune Berge aus einem Meer, das blau wie Frostschutzmittel schimmert. Auf der gegenüberliegenden Seite erhebt sich die kirchturmhohe Wand des Esmark-Gletschers, der langsam ins Meer bröckelt.  Treffender könnte der norwegische Name «Svalbard» nicht lauten – kalte Küste. Gletscher und die Tierwelt (Eisbären, Robben, Walrösser, Wale und Rentiere) sind hier die Touristen-Magnete, ebenso das kuriose russische Barentsburg.

Das 400-Seelen-Nest erinnert an schwere Maloche und Einsamkeit - trotz bunter Plattenbauten, die nicht in die Landschaft passen. Kyrillische Lettern preisen den Sozialismus, eine Lenin-Büste erinnert an vergangene Grösse. Wüsste man es nicht besser, man könnte meinen hier wäre der Kalte Krieg noch nicht vorbei.

Am nächsten Tag brechen wir zu einer Wanderung auf. Marcel Schütz ist schwer bewaffnet. An seinem Gürtel hängt eine Signalpistole, über seiner Schulter baumelt eine Pumpgun. Beide sind geladen. Wer die Siedlungen verlässt, muss als Schutz vor Eisbären bewaffnet sein, so will es das Gesetz – und der gesunde Menschenverstand.

Ein Auto hält. Der Dorfvorsteher warnt uns, in der Nähe wurden frische Eisbärspuren gefunden. Eine Ausnahme auf der Westseite der Insel. Ich bin elektrisiert und schöpfe Hoffnung für mein Bären-Selfie. Schütz dämpft meine Freude. «Zu Fuss möchte ich keinem Eisbären begegnen. Das wäre nicht gut für das Tier.» In allerletzter Notwehr müssten wir den Bären erschiessen. Zu Fuss hätten wir keine Chance, wenn der weisse Koloss uns als Snack auserkoren hätte.

Kaum lassen wir «Little Russia» hinter uns, herrscht absolute Stille, die in den Ohren schmerzt. Auf den Hügeln liegt jetzt Mitte Oktober schon der erste Schnee. Eis und Fels – mehr gibt es hier nicht. Die drei Sommermonate, in denen das Thermometer auf knapp über 0 Grad Celsius klettert, reichen nur für etwas Gras. Ein Nebel zieht auf, die Konturen verschwimmen. «Jetzt haben wir keine Chance mehr, den Fluffy zu sehen», erläutert Schütz. «Das ist gar nicht gut.» Fluffy, so nennen die Menschen hier ihre Eisbären liebevoll. Der Nebel wird so dicht, dass wir umkehren müssen. Das Risiko wäre zu gross, von dem Eisbären überrascht zu werden. Ich bin enttäuscht. Aber im frostigen Norden richtet sich das Leben nach dem Wetter.

Zurück in Longyearbyen reisst mich mitten in der Nacht mein Telefon aus dem Schlaf. Bärenalarm? Die Hotelrezeption meldet: Nordlichter in Sicht. Aufgeregt wie ein Kind stürme ich nach draussen. Wow. Ein grüner Licht-Vorhang schwebt über dem schwarzen Fjord. Das ist Magie. Und das beste Trostpflaster für verpasste Eisbären-Begegnungen.

Interview mit Marcel Schütz, Begründer von Spitzbergen Reisen

Herr Schütz, woher kommt Ihre Faszination für Spitzbergen und die Arktis?

Marcel Schütz: Als Jugendlicher habe ich das Buch «Die Entdeckung der Langsamkeit» gelesen, das in der Arktis spielt. Von da an wusste ich: Ich möchte mal ins ewige Eis.

Und dann sind Sie gleich hierher gezogen?

Nein nicht sofort. 2008 habe ich meinen ersten Trip unternommen, 2009 ein zweiten. Nach meiner Ausbildung zum Restaurationsfachmann bin ich nach Spitzbergen, um einen Job zu suchen. Allerdings ohne grosse Hoffnungen, da ich kaum Englisch und kein Norwegisch konnte. In einer Bar habe ich dann den Restaurantchef vom Hotel Radisson getroffen, der zufällig einen Kellner suchte. Nebenbei habe ich angefangen, Touren zu guiden. So ist meine eigene Firma entstanden.

Was bieten Sie an?

Mein Angebot reicht von Trekking, Schiffstouren, Schneescooter-Ausflüge bis zu Kayaktrips. Mein Fokus sind mehrtägige Trips mit Kleingruppen, bei denen man alle Aktivitäten miteinander kombiniert.

Bietet auf Spitzbergen Touren an: der Berner Marcel Schütz.

Die Umweltbedingungen auf Spitzbergen sind extrem. Sind Sie ein Abenteurer?

Ja, aber ein zivilisierter Abenteurer. Ich liebe die tagelange Einsamkeit in der Natur, freue mich aber dann auch, wieder in der Zivilisation zu sein.

Eine Hauptattraktion auf Spitzbergen sind die Eisbären. Haben Sie schon gefährliche Situationen erlebt?

Auf einer Segelboot-Tour gingen wir an Land, um Robben zu beobachten. Plötzlich kam ein Eisbär aus dem Wasser. Wir befanden uns direkt zwischen ihm und den Robben, seiner Nahrung.

Hatten Sie Angst?

Nein, ich war auf die Situation konzentriert. Wichtig ist, dass man nie vergisst: Wir Menschen sind hier nur zu Gast.

Mit dem Schiff auf Arktis-Expedition

Spitzbergen zählt einerseits zu den Arktis-Destinationen mit der besten Infrastruktur, andererseits ist das Reisen hier beschwerlich, da es auf der gesamten Insel keine Strassen gibt – Regionen ausserhalb der Inselhauptstadt Longyearbyen sind im Winter nur per Schneescooter oder im Sommer per Schiff zu erreichen. Für einen umfassenden Eindruck sollte man Spitzbergen mit einem Expeditionsschiff, das auch unzugängliche Regionen ansteuert, umrunden.

Zu sehen gibt es Arktis vom feinsten: Gletscherlandschaften, Wallrosskolonien, Robben, Vögel und natürlich Eisbären. Auch weniger Schönes steht auf dem Programm: die unzähligen Skelette weisser Belugawale, die einst hier abgeschlachtet wurden. Der Bestand hat sich wieder erholt, sodass man mit etwas Glück auch die weissen Meeressäuger sehen kann. Aufs Land und durch das Packeis geht es auf Zodiacs – Schlauchboote, mit denen man an der eisigen Küste anlanden kann.

Vorträge zur Geologie und Tierwelt geben einen vertiefenden Einblick. Für noch mehr Arktis-Feeling eignen sich Schiffs-Touren, die Nord-Norwegen oder Grönland mit einschliessen. Die eisverstärkten Expeditionsschiffe bieten im Vergleich zu «normalen» Kreuzfahrtschiffen kaum Luxus (eine Ausnahme ist die grössere FS Fram von der Rederei Hurtigruten, die ein kleinen Wellnessbereich und einen Fitnessraum hat). Ansonsten ist die Ausstattung praktisch: kleine, aber gemütliche Kabinen, ein Restaurant, eine Lounge-Bar – mehr gibt es nicht. Der Star hier ist die Natur und ihre unvergleichliche Schönheit.