Here & There

Verlassen und vergessen in Neapels Unterwelt

Fabian von Poser

Unter der süditalienischen Metropole öffnen sich kilometerlange Gänge. Einer davon ist neuerdings ein Museum.

Claudia Cioffi sitzt nicht. Sie kniet. Sie kniet in einem Gang aus Tuffstein. Es riecht nach Erde und Torf. Die Luft ist feucht. Nur ein paar spärliche Lichter beleuchten die Wände. Klaustrophobisch sollte man hier unten nicht sein. Doch Cioffi will gar nicht weiter in den Berg hinein. Mehrere hundert Meter hat sie uns schon durch unterirdische Galerien und Zisternen geführt. Jetzt kniet sie am Rande der grössten: 35 Meter hoch, 20 Meter breit. «In dieser Kammer arbeiteten einst die Brunnenmenschen», sagt Cioffi. «Ein lebensgefährlicher Job.» Im 17. Jahrhundert dienten die Zisternen den Neapolitanern als Wasserspeicher. Die so genannten Pozzari sorgten für die Beförderung des Wassers nach oben. Viele von ihnen kamen dabei ums Leben.

Es gibt in Neapel viele unterirdische Tunnel, aber keinen wie diesen. Wer im Chiaia-Viertel über ein Treppenhaus in Neapels Unterwelt absteigt, der betritt eine andere Welt. Denn hier liegt einer der Eingänge zur Galleria Borbonica. Selbst viele Neapolitaner kennen diesen Ort nicht. Der 530 Meter lange Tunnel wurde 1853 von Bourbonenkönig Ferdinand II. gebaut. Aus Angst vor einer Rebellion sollte der Gang als Fluchttunnel vom Königspalast zum Meer dienen. Wegen baulicher Probleme wurde der Tunnel jedoch nie ganz fertiggestellt. Nach der italienischen Vereinigung im Jahr 1861 geriet er in Vergessenheit.

Während des Zweiten Weltkriegs dienten die Gänge den Anwohnern als Schutz vor Luftangriffen. Zu bestimmten Zeiten lebten hier mehr als 5000 Menschen. Danach geriet der Tunnel erneut in Vergessenheit. Erst als der Geologe Gianluca Minin nach der Jahrtausendwende von der Stadt beauftragt wurde, herauszufinden, ob der seit 2000 Jahren betriebene Abbau von Tuffstein unter der Stadt die Statik der Häuser gefährde, gelangte die Geschichte wieder ans Tageslicht.

Die Türen verrostet, die Scheiben zerborsten

Minin seilte sich in Neapels Unterwelt ab und erkundete die Gänge. Er kroch durch das im 17. Jahrhundert angelegte Zisternensystem und erforschte den Bourbonen-Tunnel. Dabei stiess er auf eine Sensation: Unter Müll begraben fand der Forscher Dutzende alter Autos. Zum Beispiel das Wrack eines Fiat 500 Topolino, daneben mehrere Fiat 1100 und einen Autobianchi Primula. Kaum noch zu retten war ein zwischen 1937 und 1939 gebauter Fiat 508C. Die Türen waren verrostet, die Scheiben zerborsten. Aber das Chassis war wie bei allen Wagen noch gut zu erkennen.

Fünf Jahre benötigten Minin und seine Kollegen, um die fast drei Dutzend Autos freizulegen. Doch wie kommen die Oldtimer an einen Ort, der überhaupt nicht mit dem Auto zu erreichen ist? «Viele der Fahrzeuge wurden zum Zigarettenschmuggel benutzt», sagt Cioffi, die Minin von Anfang an begleitet hat. «Bis in die 1970er-Jahre benutzte die Polizei den Tunnel und die Zisternen als Lager für beschlagnahmte Autos.» Auch Dutzende beschlagnahmter Gilera-Motorroller fand Minin hier unten. 2006 gründete er deshalb den Verein Borbonica Sotteranea zur Wiederherstellung des Tunnels. Seit 2010 hat Minin den Tunnel gepachtet. Seitdem ist er für die Öffentlichkeit zugänglich und szenografisch beleuchtet. Dort, wo früher Zisternenwächter unter Einsatz ihres Lebens die Wasserbecken reinigten, wird heute zeitgenössische Kunst ausgestellt. Ausserdem finden klassische Konzerte für bis zu 150 Zuhörer statt.

Die unglaublichsten Relikte fanden die Ausgräber unter dem Schutt. Zum Beispiel stiess Minin auf eine Statue von Aurelio Padovani, den Führer des kampanischen Faschismus. 1934 war das Werk des Bildhauers Carlo de Veroli an der Piazza Santa Maria degli Angeli im Stadtteil San Ferdinando errichtet worden. Nach dem Ende des Faschismus wurden sämtliche Symbole vernichtet, der Koloss demoliert und im Tunnel verscharrt. Doch wie kann es sein, dass so ein riesiger Tunnel so lang in Vergessenheit geriet? «In Neapel kommen die Archäologen schon mit den Funden aus der Zeit der Griechen und Römer nicht hinterher», sagt Cioffi, «für neuere Sachen interessiert sich hier niemand.»

Bei der Tour durch Neapels Unterwelt stösst man unweigerlich auch auf Relikte aus düsteren Zeiten. 30 Meter Erde und Tuffstein machten im Zweiten Weltkrieg den Unterschied. Damals diente der Tunnel als Luftschutzkeller. Heute spielen Minin, Cioffi und Co. über Lautsprecher Sirenengeheul ab, um den Besuchern einen Eindruck vom Leben während der Bombardements zu geben – ein beklemmendes Gefühl. In einem zehn mal zehn Meter grossen Saal fällt das Licht von Cioffis Taschenlampe auf die Wand. «23.4.43 ALARME» steht dort in den Tuffstein geritzt. Das strategisch wichtige Neapel gilt als die am meisten bombardierte Stadt Italiens. Vielen Einwohnern blieben nur die unterirdischen Gänge, um sich zu verstecken. Zumindest in diesem Fall hatten die Betroffenen Glück: Direkt hinter dem Datum steht «Noi vivi». Wir leben.