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Felix Keller ist Glaziologe und mit seiner Violine ein Mitglied der Swiss Ice Fiddler. Bild: Rolf Canal

«Das Dramatisieren des Gletscherschwundes lähmt uns»

Dominik Buholzer

Die Erderwärmung hat den Gletschern in diesem Sommer besonders stark zugesetzt. Der Glaziologe Felix Keller sagt, weshalb trotz des dramatischen Rückgangs noch Grund zur Zuversicht besteht.

Herr Keller, die Gletscher in der Schweiz sind diesen Sommer so stark geschmolzen wie noch selten. Wie dramatisch ist die Situation?

Es ist dramatisch, aber darin steckt auch ein grosses Problem. Im vergangenen Sommer haben sich die Medienberichte gegenseitig überboten mit ihren Warnungen. Sie haben dies in guter Absicht getan, wollten damit aufrütteln. Doch damit erreichten sie das Gegenteil. Das Dramatisieren des Gletscherschwundes bringt uns nicht weiter, es lähmt uns vielmehr.

Wieso bewirken solche Warnungen genau das Gegenteil dessen, was beabsichtigt war?

Man weiss aus der Forschung, dass Bedrohungsszenarien kontraproduktiv sind und nicht zu einem Handeln führen. Viel mehr erreicht man, wenn die Leute das Gefühl bekommen, sie können mit ihrem Einsatz etwas ändern beziehungsweise beeinflussen.

Die Frage ist: Können wir das beim Klimawandel noch?

Der Menschheit standen noch nie so viele Mittel zur Verfügung wie heute. Es besteht also allen Grund zur Zuversicht.

Weshalb geschieht nicht mehr?

Nirgendwo klafft eine solch grosse Lücke zwischen Wissen und Handeln wie bei der Nachhaltigkeit. Wir wüssten alle schon längst, was wir tun könnten, um der Klimaerwärmung Einhalt zu gebieten. Trotzdem tun wir es nicht, weil es nicht attraktiv ist.

Felix Keller vor den Ice Stupas. Bild: Mayk Wendt

Weil es auch um Verzicht geht?

Das spielt neben der Ohnmacht auch eine entscheidende Rolle. Verzicht an und für sich kann auch was Lustvolles sein. Entscheidend ist, welche Absichten beziehungsweise Motive ich damit verbinde. Deshalb sollte man meiner Meinung nach nicht nur Geld in den Umweltschutz, sondern auch mehr Mittel in die Motivationsforschung stecken. Wie bringen wir die Menschen dazu, dass sie noch viel mehr als heute für die Nachhaltigkeit tun? Dies ist eine ganz entscheidende Frage.

«Bis wir eine Veränderung feststellen, dauert es also eine Weile. Das geht nicht von heute auf morgen.»

Aber können wir das Rad wirklich noch rumreissen?

Klar, wir müssen nur geduldig sein. Der Rückgang des Morteratschgletschers diesen Sommer ist das Ergebnis der Klimaverhältnisse vor 20 Jahren, also im Jahre 2003. Bis wir eine Veränderung feststellen, dauert es also eine Weile. Das geht nicht von heute auf morgen.

Kann die aktuelle Entwicklung eine Chance für einen nachhaltigeren Tourismus sein?

Auf jeden Fall. Wir stellen dies hier im Oberengadin klar fest: Es findet ein Wandel statt. Wir müssen jetzt lediglich aufpassen, dass wir diese Entwicklung mit unnötigen Drohungen nicht leichtfertig aufs Spiel setzen.

Sie verfolgen seit mehreren Jahren ein Projekt zum Schutze der Gletscher. «MortAlive» nennt es sich. Ziel ist es, den Morteratschgletschers ohne Strom, sondern nur mit Wasserdruck künstlich beschneien und so einen weiteren Rückgang der Eismassen im Sommer zu stoppen. Lässt sich dies jemals realisieren?

Wir sind diesbezüglich sehr zuversichtlich. Erste Tests verliefen positiv. Wir wissen, dass das System grundsätzlich funktioniert. In einem nächsten Schritt wollen wir es noch in einem Skigebiet testen, bevor wir damit auf den Gletscher gehen.

Gibt es schon Interessenten?

Die gibt es. Wir stehen mit drei Skigebieten im Gespräch. Wir brauchen aber auch noch Geld, rund zwei bis drei Millionen Franken.

Das Geld zusammenzubringen ist die grösste Herausforderung – richtig?

Wir sind optimistisch. Das Projekt löst Freude aus.

Eine Forschungsgruppe an der Wetterstation auf dem Morteratschgletscher. Bild: Mayk Wendt

Das Projekt gab in der Schweiz in den vergangenen Jahren immer wieder zu reden. Stösst es auch international auf Interesse?

Verschiedene Länder im Himalaya und Peru verfolgen das Projekt sehr genau. Sie zeigen grosses Interesse, bei einem Gelingen die Technologie bei sich einzusetzen. In diesen Ländern beziehen sie zum Teil bis zu 80 Prozent des Wassers von Gletschern. Während es beim Morteratschgletscher um die Entwicklung des Verfahrens geht, gibt es insgesamt über 200 Mio. Menschen weltweit, deren Existenz vom Gletscher abhängt und wir mit dem MortAlive Verfahren helfen möchten.

Heute werden in der Schweiz ein Grossteil der Skipisten künstlich beschneit. Stört Sie dies nicht?

Nein. Sehen Sie: Wir hier im Engadin leben vom Tourismus. Der Wintersport bildet dabei eine der grössten Einnahmequellen. Wer gegen das technische Beschneien ist, ist gegen das Skifahren. Und ohne Wintersport haben die meisten Bergtäler in der Schweiz keine Zukunft mehr.

«Wenn man gegen die technische Beschneiung ist, muss man auch die Verantwortung dafür übernehmen, wenn in den Wintersportorten die Leute keine Beschäftigung mehr haben.»

Mit dieser Argumentation machen Sie sich bei Umweltschutzorganisationen nicht beliebt.

Wenn man gegen die technische Beschneiung ist, muss man auch die Verantwortung dafür übernehmen, wenn in den Wintersportorten die Leute keine Beschäftigung mehr haben. Ich wünschte mir von den Umweltorganisationen in dieser Frage eine weniger verkrampfte Haltung und zum Beispiel ein Engagement für den Einsatz der neuen energieeffizienten Schneianlagen, die den Stromverbrauch um bis zu 90 Prozent senken können. Nachhaltigkeit besteht nicht nur aus Umweltschutz, sondern hat auch eine ökonomische und soziale Komponente. Diese drei Bereiche müssen im Gleichgewicht sein.