Karriere

Teamfähigkeit, strategischer Weitblick, kaufmännisches Flair, unternehmerisches Denken, vier Fremdsprachen, Empathie, Sozialkompetenz – ja, was denn noch? Bild: Fotolia

Könner wissen auch, was sie nicht können

Felix Frei

Psychologe Felix Frei nimmt sich übermenschlichen Anforderungsprofilen an und erklärt den Begriff «Inkompetenzkompensationskompetenz».

Wenn man wieder einmal so richtig schön deprimiert sein will, dann muss man bloss den Stellenanzeiger lesen. Zunächst sinkt ja die Laune schon, wenn man zwischen den Fingern spürt, wie dünn er ist. Aber da fällt man natürlich nicht drauf rein, denn man weiss, dass heute Stellen oft nur noch elektronisch ausgeschrieben sind.

So richtig deprimiert wird man erst, wenn man – auf Papier oder im Web – liest, was die gesuchten Menschen denn so alles können müssen. Man würde sich nicht wundern, wenn auch der gesuchte Lagerist nebst der obligaten Teamfähigkeit auch strategischen Weitblick, kaufmännisches Flair, unternehmerisches Denken, drei bis vier Fremdsprachen sowie Empathie und Sozialkompetenz mitbringen müsste. Ach ja, ein kräftiger Rücken wäre auch nicht schlecht.

Wenn all die Leute all das könnten, was sie angeblich mitbringen müssten, dann könnte man – würde ich zumindest – in eine tiefe Depression fallen. Was bin ich doch dumm, verglichen mit diesen Genies! Träfe man sie, müsste man fragen: «Wann haben Sie den Nobelpreis zum letzten Mal abgelehnt?»

Natürlich wissen wir alle, dass nichts so heiss gegessen, wie es gekocht wird. Ich fürchte aber, dass die Art, wie heute Anforderungsprofile geschrieben werden, eine Haltung des Selbstbetrugs begünstigt: Tu immer so, als ob du alles könntest. Es ist ja schliesslich eine «Herausforderung». Und es zeugt von starkem Selbstbewusstsein.

Niemand kann in allen Feldern Profi sein

Selbstbetrug ist das – und dies ist bekanntlich der schlimmste Betrug. Denn spätestens seit dem unsterblichen Film «Manche mögens heiss» (ja, der mit Marilyn Monroe, Tony Curtis und Jack Lemmon) wissen wir es besser: Well, nobody’s perfect! Na und? Niemand ist vollkommen! Aber diese Einsicht ist – wenn auch wahr – nicht das, was unser Problem löst. Auch nicht, wenn ein grosser Boss leutselig verkündet: «Selbst ich mache Fehler!» («Was Sie nicht sagen!», möchte man da antworten ...).

Nein, der Punkt ist der: Wirkliche Profis wissen sehr genau, was sie nicht können. Sogar nur wirkliche Profis wissen sehr genau, was sie nicht können. Und sie besitzen etwas, das auf den unaussprechlichen Namen Inkompetenzkompensationskompetenz hört: Das heisst, echte Könner belügen sich nicht über die Grenzen ihres Könnens. Sie belügen auch andere nicht darüber. Sie wissen, was sie sich zutrauen können und was nicht. Und weil sie andere Dinge eben sehr wohl können, getrauen sie sich auch zu sagen, was sie nicht können. Sie lehnen dann eine entsprechende Aufgabe ab. Oder sie holen sich Hilfe. Oder sie versuchen erst zu lernen, was sie noch nicht können.

Niemand kann in allen Feldern Profi sein. Für uns Gewöhnlichsterbliche lautet die schwierige Aufgabe daher meistens, unsere Grenzen auch da einschätzen zu können, wo wir nur dilettieren. Dazu ist es mitunter sinnvoll, sich, ohne gekränkt zu sein, von jemandem kritisch beurteilen zu lassen. Dieser Jemand kann auch Ihre Chefin oder sonst ein Profi sein. Man muss dann den Titel dieses Freibriefs nur etwas anders schreiben: Könner wissen auch, was Sie nicht können. Wenn dieser Jemand es dann auch noch sachlich formulieren kann, sollten Sie ihm oder ihr wirklich dankbar sein.