Karriere

Die Baby Boomer (geburtenstarke Jahrgänge 1946 bis 1964) sind in Rente oder gehen bald in Rente, während dem die Pandemie das Bedürfnis auf Stellenwechsel beschleunigt hat und in vielen Branchen zahlreiche Stellen offen sind, während ausländische Beschäftigte in ihr Ursprungsland zurückgingen: Ein perfekter Sturm für die Reisebranche, welche händeringend nach Personal sucht. Bild: zVg

«Arbeitnehmende sollte man wie Kunden behandeln»

Jean-Claude Raemy

THEMA FACHKRÄFTEMANGEL, Teil 2: Jean-Philippe Spinas, Executive Search bei Kienbaum und Mitgründer des Portals myCareerGate, erklärt, warum aktuell ein genereller Fachkräftemangel herrscht und was Unternehmen tun müssen, um Arbeitnehmende zeitgemäss anzusprechen.

Das Thema Fachkräftemangel dominiert den Diskurs innerhalb der Reisebranche. Ist es ein hausgemachtes oder allgemeines Problem? Sind womöglich die Arbeitsbedingungen oder gar die Arbeitgeber-Firmen nicht attraktiv genug? Wird falsch rekrutiert? Zu diesen Themen hat sich Travelnews mit Jean-Philippe Spinas von der Business Management Consultingfirma Kienbaum unterhalten - Spinas kennt die Reisebranche natürlich sehr gut, aus früheren Tätigkeiten bei Kuoni, STA Travel, der Swiss und der früheren Balair/CTA.


Jean-Philippe Spinas

Herr Spinas, warum gibt es überhaupt den Fachkräftemangel?

Der Fachkräftemangel ist nicht ein Problem allein der Reisebranche, sondern ein generelles Problem - welches in der Reisebranche vielleicht besonders ausgeprägt ist. Das Grundproblem ist die Überalterung in der Schweiz. Es gehen mehr Leute in Rente, als dass neue Leute in den Arbeitsmarkt stossen. Moderne Schätzungen gehen davon aus, dass in den kommenden 10 Jahren rund 500'000 Personen mehr in Rente gehen werden als auf den Arbeitsmarkt kommen, das sind rund 50'000 Stellen pro Jahr.

Oder anders formuliert: Die Schweiz zählt rund 5 Millionen Beschäftigte. In 10 Jahren sind es nur noch 4,5 Millionen. Wie sollen diese ersetzt werden? In den kommenden 10 Jahren müssen 10 Prozent der arbeitstätigen Bevölkerung ersetzt werden. Doch es rücken viel zu wenige Arbeitskräfte nach. Dieses Problem war eigentlich seit längerem bekannt, nun schlägt es durch. Der Fachkräftebedarf steigt rasant an, in fast allen Branchen.

Was gibt es denn für Lösungsansätze für dieses Problem?

Zum einen gibt es natürlich den «Import» von Arbeitskräften, also die Einwanderung. Dieser gestaltet sich aber zunehmend schwierig. Nicht nur wegen gewisser politischer Widerstände, sondern auch, weil das Phänomen der Überalterung europaweit auftritt, also der Kampf um Arbeitnehmer überall stattfindet.

Zum anderen kann man auf Automatisierung und Digitalisierung setzen. Damit lässt sich trotz weniger Personal die Produktivität halten oder gar verbessern. Das heisst aber auch, dass immer mehr «einfache Jobs» wegfallen und die Ansprüche an die Personen, welche die verbleibenden Stellen besetzen sollen, weiter ansteigen werden.

Die Jobs werden anspruchsvoller?

Absolut. Vor 30 Jahren war ich Sales Coordinator bei der Balair/CTA. Der Job war nicht unbedingt leicht. Aber die Ansprüche an heutige Sales Coordinators, rein jetzt vom Stellenprofil her betrachtet, sind seitdem massiv gewachsen.

Das heisst, man muss noch mehr in die Ausbildung investieren.

Absolut, diese ist zentral. Hierbei tragen aber sowohl das Unternehmen als auch der Arbeitnehmer eine Verantwortung. Unternehmen müssen Aus- und Weiterbildungsmöglichkeiten bieten, doch die Arbeitnehmenden können nicht einfach darauf warten, sondern müssen proaktiv an sich arbeiten.

«Der Fachkräftebedarf steigt rasant an, in fast allen Branchen.»

Sprechen wir etwas spezifischer über die Reisebranche. Trägt sie nicht doch auch etwas Mitschuld an der aktuellen Personalmisere?

Schwierig zu sagen. Die Branche hat per se nichts falsch gemacht, aber mancherorts wurden wohl zu viele Mitarbeitende zu schnell entlassen. Manche machten es auch während der Pandemie gut und schafften es, die Angestellten im Unternehmen zu halten. Und dann gab es Unternehmen wie Diethelm Keller, welche das Reisegeschäft bei den ersten Krisenanzeichen und trotz guter Gewinne in vorangegangenen Jahren fallen liessen; das war ja sogar noch vor der Pandemie. Der Konkurs von STA Travel sorgte für viel Verunsicherung bzw. schaffte kein Vertrauen, da zu sehen war, wie ein Grossunternehmen die Reisesparte einfach fallen liess. Da die Schweiz Vollbeschäftigung hat, ist es oft möglich, alternative Stellen für mehr Jobsicherheit zu finden.

Dann gibt es natürlich das Salärthema. Die Reisebranche zahlt keine hohen Löhne, das ist bekannt. Wobei man immer Relationen herstellen muss. Bedenklich ist es, wenn jemand unter dauerndem Stress ist und Überstunden macht und trotz abgeschlossener Ausbildung 4000 Franken verdient, und als Sicherheitsassistenz Grenkontrolle am Flughafen Zürich über 6000 Franken verdienen kann. Kein Wunder springen da einige ab.

Die Reisebranche kann nun aber in der Regel, mit wenigen Ausnahmen, keine Riesensaläre bezahlen. Was soll sie denn machen?

Wir haben festgestellt, dass das Salär, so wichtig es auch ist, nicht zwingend das wichtigste Kriterium ist, wenn eine Stelle gesucht wird. Gerade junge Menschen suchen primär nach Entwicklungsmöglichkeiten. Sie wollen den «Purpose» ihrer potenziellen Tätigkeit kennen, sie interessieren sich für die Unternehmenskultur, legen Wert auf das Team. Bei der Suche gilt heute sehr oft die Maxime «Company First, Job Follows». Sprich: Das primäre Kriterium ist, ob man in einem bestimmten Unternehmen überhaupt arbeiten will, und erst in zweiter Instanz dann, ob man den angebotenen Job per se will. Wir führen beispielsweise eine Datenbank, in der 10'000 Personen angegeben haben, wo sie gerne arbeiten würden - und nicht etwa was sie gerne tun würden. So lassen sich Arbeitsbeziehungen auf neue Weise aufbauen.

Viele Junge tragen auch eine bestimmte Vorstellung einer Karriereplanung in sich und lassen sich weniger «durch die Jobwelt treiben» als früher. Solche Singe müssen die Arbeitgeber berücksichtigen.

Wie sollte man also an Arbeitssuchende herangehen?

Die Mitarbeiter-Pipeline sollte man gleich wie eine Kunden-Pipeline behandeln. Sprich: Potenzielle Arbeitnehmer sollte man wie Kunden behandeln. Man muss das Interesse wecken, die Person begleiten, ihre Wünsche und Bedürfnisse kennenlernen und zuletzt ein passendes Angebot machen. Man sollte auch transparent sein. Auf dem Arbeitsmarkt sind die Arbeitnehmer aktuell in stärkerer Position.

In der Vergangenheit reichte eine strategische Führung, um ein Unternehmen langfristig lebensfähig zu halten. Heute und in Zukunft wird eine Kombination aus strategischer und mitarbeiterorientierter Führung erfolgsentscheidend sein. Ein sehr gutes Beispiel dieser modernen Führungskultur verkörpert Laura Meyer, die CEO der Hotelplan Group.

Heisst das, dass die Arbeitnehmersuche neu gedacht werden muss?

Absolut. Das herkömmliche Modell, nach welchem man einfach einen Job ausschreibt, mit einer trockenen Beschreibung und der Aufforderung sich zu melden, lockt nicht mehr. Es wäre besser, das Unternehmen als Ganzes vorzustellen und auf attraktive Weise zu erklären, warum ein potenzieller Arbeitnehmer dort einen Job aufnehmen sollte. Beisst ein Kandidat an, kann man auf diesen eingehen und findet dann womöglich die passende Stelle.

«Gerade junge Menschen suchen primär nach Entwicklungsmöglichkeiten.»

Die Realität ist doch aber, dass viele befürchten, nicht einmal die erste Hürde zu schaffen, und sich deshalb nicht bewerben.

Es können nun mal nicht alle vorgeladen werden. Aber es gibt in meinen Augen viel zu viel automatisierte Rekrutierung, deren technische Limitierung möglicherweise verhindert, dass man echte Talente erkennt. Manchmal ist der Bewerbungsprozess viel zu kompliziert. Wie viel Aufwand ist ein Arbeitnehmer bereit auf sich zu nehmen, im Wissen, dass er vermutlich eine Absage erhält, oder noch nicht einmal das? Oftmals sind auch die Hürden, welche im Stellenprofil gestellt werden, so unglaublich hoch, dass man gar nicht mehr erst eine Bewerbung vornimmt.

Dabei wünschen sich die meisten Arbeitssuchenden Interaktion mit dem potenziellen Arbeitgeber. 100 Prozent würden sogar begrüssen, dass ein Unternehmen auf sie zukommen. Der Anstellungsprozess sollte also völlig neu gedacht werden. Wir erarbeiten bei uns neue Flow-Modelle, mit denen der Anstellungsprozess besser gelingen kann.

Sie haben vorhin gesagt, die Firma müsse sich als Ganzes präsentieren, und nicht nur einen Job. Sie sprechen hier also von «Employer Branding».

Absolut. Die klassische Stellenausschreibung funktioniert nicht mehr. Die Firma muss darlegen können, wieso man bei ihr arbeiten sollte. Dazu sollte klar dargelegt werden, was ein Arbeitnehmer für Benefits haben kann. Es gibt Firmen mit Antrittsprämien, welche beispielsweise in Weiterbildung investiert werden können. Viele setzen jetzt auf die Möglichkeit einer «Workation». Es muss aber nicht immer mit der grossen Kelle angerührt werden: Kleinere Unternehmen können mit Authentizität und Flexibilität punkten. Und wie erwähnt, sollte eine Art Karriereweg möglich sein, oder die Firma sollte sich als wichtige Stufe auf einer Karriereleiter präsentieren können. Das kommt an.

Und wenn alle Branchenunternehmen das machen, ist auch der Branche als Ganzes gedient?

Gewiss. Das Phänomen der Überalterung ist damit natürlich nicht vom Tisch. Aber im Kampf um die grössten Talente, der international und branchenübergreifend stattfindet, ist es sicher gut, wenn mehrere Firmen innerhalb einer Branche attraktiv erscheinen. Das ist dann gewissermassen ein «Industry Branding». Das würde der Reisebranche gut tun.